Das natürliche Verderben des Menschen von Christian Fürchtegott Gellert

1	Wer bin ich von Natur, wenn ich mein Innres prüfe?
2	O wie viel Greul läßt mich mein Herze sehn!
3	Es ist verderbt; darum verbirgt mir's seine Tiefe,
4	Und weigert sich, die Prüfung auszustehn.
5	Der Weisheit erster Schritt ist, seine Torheit kennen;
6	Und diesen Schritt, wie oft verwehrt mir's ihn!
7	Voll Eigenlieb und Stolz will sich's nicht strafbar nennen,
8	Der Reu entgehn, doch nicht den Fehler fliehn.
9	Wahr ist's, ich find in mir noch redendes Gewissen,
10	In der Vernunft noch Kenntnis meiner Pflicht.
11	Ich kann mein Auge nie der Tugend ganz verschließen,
12	Und oft scheint mir ein Strahl von ihrem Licht.
13	Doch schwaches Licht, das mir den Reiz der Tugend zeiget,
14	Und vom Verstand nicht bis zum Herzen dringt!
15	Vergebens lehret er, das Herz bleibt ungebeuget,
16	Hat sein Gesetz, und folgt ihm unbedingt.
17	Ein Richter in mir selbst stört oft des Herzens Ruhe;
18	Er klagt mich an. Ich steh erschrocken still,
19	Und billige nicht mehr das Böse, das ich tue,
20	Und tue nicht das Gute, das ich will.
21	Verstellung, die ich doch an meinem Nächsten hasse,
22	Erlaub ich mir, und halt es für Gewinn,
23	Wenn ich im falschen Licht mich andern sehen lasse,
24	Und scheinen kann, was ich mir selbst nicht bin.
25	Ich weiß, daß der Besitz der Güter dieser Erden
26	Der Seele nie das wahre Glück verleiht;
27	Doch bleiben sie mein Wunsch; und um beglückt zu werden,
28	Erring ich mir die Last der Eitelkeit.
29	Ich weiß, wie groß es sei, aus Überlegung handeln,
30	Und handle doch aus sinnlichem Gefühl.
31	Durch falschen Schein getäuscht, eil ich, ihm nachzuwandeln,
32	Und Leidenschaft und Irrtum steckt mein Ziel.
33	Ein gegenwärtig Gut versäum ich zu genießen,
34	Flieh, was mich sucht, und suche, was mich flieht.
35	Im Glücke bin ich stolz, verzagt in Kümmernissen,
36	Und ohne Ruh um Ruhe stets bemüht.
37	Mein Nächster hat ein Recht auf viele meiner Pflichten;
38	Doch wird dies Recht so oft von mir entweiht.
39	Versagt er mir die Pflicht: so eil ich, ihn zu richten;
40	Und sein Versehn ist Ungerechtigkeit.
41	Nicht Liebe gegen Gott heißt mich dem Nächsten dienen,
42	Mehr Eigenlieb und niedrer Eigennutz.
43	Aus ihnen fließt Betrug, Verstellung; und in ihnen
44	Findt Neid und Haß, und Stolz und Härte Schutz.
45	Gott ehren ist mein Ruf. Wenn ich den Ruf betrachte,
46	Was find ich da für Mängel meiner Pflicht!
47	Die Wunder der Natur, die Gott zu Lehrern machte,
48	Stehn vor mir da, und diese hör ich nicht.
49	Und heißt ihr Anblick mich auf seine Weisheit schließen,
50	Auf Güt und Macht: so schließt nur mein Verstand;
51	Das Herz bleibt ungerührt, betäubt bleibt das Gewissen,
52	Und Gott, mein Herr und Vater, unbekannt.
53	Er schenkt mir so viel Guts. Gebrauch ich seine Güte
54	Zu meinem Glück; und geb ich ihr Gehör?
55	Nein, durch den Mißbrauch selbst verschließ ich mein Gemüte
56	Der Dankbarkeit und Liebe desto mehr.
57	Oft sagt mir mein Verstand, daß des Allmächtgen Gnade
58	Das größte Gut, der Trost des Lebens ist,
59	Und welche Schulden ich auf mein Gewissen lade,
60	Wenn sie mein Herz für Menschengunst vergißt!
61	Und doch, o Gott! wie oft geb ich dies Glück der Seelen,
62	Dir wert zu sein, für kindischen Gewinn,
63	Für einen Ruhm der Welt, für Lüste, die mich quälen,
64	Für Eitelkeit, und für ein Nichts dahin!
65	Gott ist der Herr der Welt; auf seine Hülfe bauen,
66	Ist meine Pflicht. Doch wenn gehorch ich ihr?
67	Bald bebt mein Herz vor Furcht, und bald ist das Vertrauen,
68	Das mich beseelt, nur ein Vertraun zu mir.
69	Dies ist des Menschen Herz. Wer hat dies Herz verheeret?
70	So kam es nicht, o Gott! aus deiner Hand.
71	Der Mensch durch eigne Schuld hat seine Würd entehret;
72	Und beides fiel, sein Herz und sein Verstand.
73	Doch so verderbt wir sind, so schwach, uns selbst zu eilen;
74	So steuert Gott doch der Verdorbenheit,
75	Läßt durch sein heilig Wort uns neue Kraft erteilen,
76	Licht der Vernunft, dem Herzen Reinigkeit.
77	Und du willst dieser Kraft, o Mensch! dich widersetzen?
78	Sie beut sich an, du aber wehrest ihr?
79	Und willst des größten Glücks dich selber unwert schätzen?
80	Erkenne Gott, noch steht dein Heil bei dir!

Details zum Gedicht „Das natürliche Verderben des Menschen“

Gedicht-Analyse

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Das natürliche Verderben des Menschen“ des Autors Christian Fürchtegott Gellert. Gellert wurde im Jahr 1715 in Hainichen geboren. Zwischen den Jahren 1731 und 1769 ist das Gedicht entstanden. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Aufklärung zuordnen. Der Schriftsteller Gellert ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 80 Versen mit insgesamt 20 Strophen und umfasst dabei 669 Worte. Christian Fürchtegott Gellert ist auch der Autor für Gedichte wie „Krispin und Krispine“, „Das Testament“ und „Der reiche Geizhals“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Das natürliche Verderben des Menschen“ weitere 164 Gedichte vor.

Weitere Gedichte des Autors Christian Fürchtegott Gellert (Infos zum Autor)

• Der Selbstmord
• Nicht jede Besserung ist Tugend
• Der Jüngling und der Greis
• Krispin und Krispine
• Das Testament
• Der reiche Geizhals
• Der Leichtsinn
• Das Kind mit der Schere
• Der junge Krebs und die Seemuschel
• Das Glück und die Liebe

Zum Autor Christian Fürchtegott Gellert sind auf abi-pur.de 164 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.