Eines Tages von Otto Ernst

Durch die silberflimmernden Gardinen,
Über rote Blumen floß ins Zimmer
Immer-immerfort die Sommersonne;
Am Piano saß das blonde Mägdlein;
Unter seinen rosenzarten Fingern
Sprangen flink und hell empor die Töne,
Klang das Liedlein „Mit dem Pfeil, dem Bogen“ –
 
Aber was ergriff den Mann im Zimmer
Nebenan? Den Blick noch kaum erhob er,
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Kaum dem Klange neigt er noch das Ohr –
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Packt ein Schütteln ihn bei beiden Schultern;
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In die Hände drückt er jäh das Antlitz,
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Und ihn wirft ein wildes, stummes Weinen.
 
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Weckt’ ihm wohl das Lied ein tot’ Erinnern?
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Eines längst versunk’nen Frühlings Helle?
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Nein.
 
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Des Menschen Herz ist eine Schale,
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Die die ungeweinten Tränen auffängt,
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Alle, alle unvergoss’nen Tränen
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Aufhebt einem unbekannten Tag.
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Tränen, die dein Aug’ im Jugendlachen,
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In der Mannheit Stolz, im Rausch des Kampfes
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Einst zurückwies, sammelt still die Schale,
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Tränen selbst, um die du nie erfahren,
 
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Stumm-geheim vom Leben zubereitet,
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Sammelt sie auf einen stillen Tag.
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Ist der unbekannte Tag gekommen,
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Braucht es nichts als einer Blume Atem,
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Eines Sonnenstrahls geheimes Klingen
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Oder eines Liedes Flügelwehn –
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Über strömt die übervolle Schale,
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Und dein Leben sinkt, ertrinkt im Schmerz.
 
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Von den Armen hob den Kopf er langsam,
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Starrte über Nahes in die Ferne,
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Und in feuchter, silberreiner Helle
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Stieg aus Tränenfluten ihm die Welt.
 
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Durch die silberflimmernden Gardinen,
38 
Über rote Blumen floß die Sonne,
39 
Und von leisen, rosenzarten Fingern
40 
Klangs: „O wunderschön ist Gottes Erde“.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.8 KB)

Details zum Gedicht „Eines Tages“

Autor
Otto Ernst
Anzahl Strophen
7
Anzahl Verse
40
Anzahl Wörter
232
Entstehungsjahr
1907
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Eines Tages“ wurde von dem deutschen Autor Otto Ernst geschrieben, der von 1862 bis 1926 lebte. Dies bedeutet, dass das Gedicht höchstwahrscheinlich zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und dem Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden ist - in einer Zeit also, in der sich in Deutschland viele gesellschaftliche und kulturelle Umbrüche ereigneten.

Auf den ersten Eindruck wirkt das Gedicht melancholisch und tiefgründig. Es erzählt von einem Mann, der, beim Hören des Pianospiels eines blonden Mädchens und dem Einfall der Sommersonne durch die Gardinen, von intensiven Emotionen überwältigt wird. Diese Emotionen scheinen nicht auf konkrete Erinnerungen zurückzuführen zu sein - stattdessen repräsentieren sie eine Sammlung von ungeweinten Tränen, die sich im Laufe der Jahre angesammelt haben. Eine einzige Melodie oder ein Sonnenstrahl kann diese Tränen freisetzen und den Mann in tiefer Traurigkeit versinken lassen.

Das lyrische Ich scheint somit die menschliche Sensibilität und Emotionalität zu thematisieren und die Unausweichlichkeit von Schmerz im menschlichen Leben zu betonen. Gleichzeitig werden jedoch auch die Schönheit und Vitalität des Lebens angesprochen, die parallel zu dem Schmerz existieren - repräsentiert durch die Musik, die die junge Frau spielt, und den Sonnenschein, der ins Zimmer strömt.

Das Gedicht zeichnet sich durch eine rhythmische und melodische Sprache aus, die die Emotionen des lyrischen Ichs reflektiert. Die Wiederholung bestimmter Phrasen (wie „die ungeweinten Tränen“) erzeugt eine hypnotische Wirkung, die die Intensität der Gefühle des Mannes unterstreicht. Ebenso bemerkenswert ist die Verwendung von bildhafter Sprache, die das Gedicht lebendig und anschaulich macht - wie das wiederholte Bild der „silberflimmernden Gardinen“ und der „roten Blumen“, die von der Sonne beleuchtet werden.

Insgesamt ist „Eines Tages“ ein Gedicht, das die Dualität von Schmerz und Schönheit im menschlichen Dasein auf bewegende Art und Weise zum Ausdruck bringt. Die Reaktion des Mannes auf die scheinbar alltäglichen Phänomene der Musik und des Sonnenlichts zeigt, wie tief die Erfahrungen und Emotionen reichen können, die in jedem von uns verborgen liegen.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Eines Tages“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Otto Ernst. Geboren wurde Ernst im Jahr 1862 in Ottensen bei Hamburg. Das Gedicht ist im Jahr 1907 entstanden. Erschienen ist der Text in Leipzig. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht der Epoche Moderne zuordnen. Bei Verwendung der Angaben zur Epoche prüfe bitte die Richtigkeit der Zuordnung. Die Auswahl der Epoche ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen und muss daher nicht unbedingt richtig sein. Das 232 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 40 Versen mit insgesamt 7 Strophen. Die Gedichte „Aus einer Nacht“, „Ausflug“ und „Blühendes Glück“ sind weitere Werke des Autors Otto Ernst. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Eines Tages“ weitere 64 Gedichte vor.

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