Das Testament von Christian Fürchtegott Gellert

Philemon, der bei großen Schätzen
Ein edelmütig Herz besaß
Und, andrer Mangel zu ersetzen,
Den eignen Vorteil gern vergaß;
Philemon konnte doch dem Neide nicht entgehen,
So willig er auch war, den Neidern beizustehen.
Zween Nachbarn haßten ihn, zween Nachbarn ruhten nie,
Aufs schimpflichste von ihm zu sprechen.
Warum? Er war beglückt und glücklicher als sie;
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Ist dies nicht schon ein groß Verbrechen?
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Die Freunde rieten ihm, sich für den Schimpf zu rächen.
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»Nein«, sprach er, »laßt sie neidisch schmähn,
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Sie werden schon nach meinem Tode sehn,
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Wie viel sie recht gehabt, ein Glück mir nicht zu gönnen,
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Das wenig Menschen nützen können.«
 
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Er stirbt. Man find't sein Testament
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Und liest: Ich will, daß einst nach meinem Sterben
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Mein hinterlassnes Gut die beiden Nachbarn erben,
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Weil sie dies Gut mir nicht gegönnt.
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So mancher Freund verwünscht dies Testament!
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»Wie? konnt' ich ihn nicht auch beneiden?
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Mir giebt er nichts, und alles diesen beiden?«
 
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Die beiden Nachbarn sehn vergnügt
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Den Sinn des Testaments vollführen.
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Denn damals wußte man nicht recht zu prozessieren,
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Sonst hätten beide nichts gekriegt.
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So aber kriegten sie das völlige Vermögen.
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Wie rühmten sie den Sel'gen nicht!
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Er war die Großmut selbst, er war der Zeiten Licht,
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Und alles dies des Testamentes wegen;
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Denn eh' er starb, war er's noch nicht.
 
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Sind unsre Nachbarn nun beglückt?
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Vielleicht. Wir wollen Achtung geben.
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Der eine Nachbar weiht entzückt
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Dem reichen Kasten Ruh' und Leben.
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Er hütet ihn mit karger Hand,
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Und wacht, wenn andre schnarchend liegen,
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Und wünscht mit Tränen sich Verstand,
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Die schlauen Diebe zu betrügen;
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Springt oft, durch böse Träum' erschreckt,
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Als ob man ihn bestohlen hätte,
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Mit schnellen Füßen aus dem Bette
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Und sucht den Ort, wo er den Schatz versteckt.
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Er martert sich mit tausend Sorgen,
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Sein vieles Geld vermehrt zu sehn,
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Und nimmt aus Geiz sich vor, die Hälfte zu verborgen,
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Und läßt den, den er rief, doch leer zurücke gehn.
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Arm hatt' er sich noch satt gegessen;
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Reich hungert er, bei halbem Essen,
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Und schnitt das Brot, das er den Seinen gab,
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Mit Klagen über Gott und über Teurung ab,
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Und ward mit jedem neuen Tage
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Der Seinen Last und seine Plage.
 
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Der andre Nachbar lachte sein.
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»Der Torheit«, sprach er, »will ich wehren;
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Was ich geerbt, will ich verzehren
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Und mich des Segens recht erfreun.«
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Er hielt sein Wort und sah in wenig Jahren
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Sein vieles Geld in fremder Hand;
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Durch Gassen, wo er sonst stolz auf und ab gefahren,
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Schlich itzt sein Fuß ganz unbekannt.
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»Ach!« sprach er zu dem andern Erben,
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»Philemon hat es wohl gedacht,
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Daß uns der Reichtum wird verderben,
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Drum hat er uns sein Gut vermacht.
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Du hungerst karg: ich hab' es durchgebracht.
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Wir waren wert, den Reichtum zu besitzen;
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Denn keiner wußt' ihn recht zu nützen.«
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (29.8 KB)

Details zum Gedicht „Das Testament“

Anzahl Strophen
5
Anzahl Verse
68
Anzahl Wörter
459
Entstehungsjahr
1715 - 1769
Epoche
Aufklärung

Gedicht-Analyse

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Das Testament“ des Autors Christian Fürchtegott Gellert. 1715 wurde Gellert in Hainichen geboren. Im Zeitraum zwischen 1731 und 1769 ist das Gedicht entstanden. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zur Epoche Aufklärung zu. Bei dem Schriftsteller Gellert handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 459 Wörter. Es baut sich aus 5 Strophen auf und besteht aus 68 Versen. Die Gedichte „Krispin und Krispine“, „Das Testament“ und „Der reiche Geizhals“ sind weitere Werke des Autors Christian Fürchtegott Gellert. Zum Autor des Gedichtes „Das Testament“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 164 Gedichte vor.

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