Einem Verschwindenden von Rudolf Lavant

Aus gewölbter Dome Dämmern trat einst still und stark und heiter,
Ohne Bibel, ohne Bäffchen, Gottes und des Deutschthums Streiter.
In den Lärm des Tages stürzte und es schwang auf die Tribüne,
Dem Zigarrendampfe trotzend, redelustig sich der Kühne
Und er sprach mit Donnerstimme ziemlich weltlich zu den Massen,
Die den trocknen Ton der Kanzel schlimmer noch als Zahnweh hassen.
O, er wußte sie zu fassen, wie der große Augustiner
Abraham a Sancta Clara seine stets fidelen Wiener,
Denn es warf der neue Luther zürnend um die Wechslerbuden
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Der verstockten, schwindellust’gen, der vermaledeiten Juden,
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Die am Mark des Lebens zehren, die da schachern, statt zu „schuften,“
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Und dabei nach Zwiebelröhren orientalisch-undeutsch duften.
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„Die Verjudung,“ rief er zeternd, „unterwühlt den Bau der Ahnen,
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Ihrer mußt du dich erwehren, stolzes Prachtvolk der Germanen!
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Oder willst nach opfervollen, herrlichen Franzosensiegen
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Einer Handvoll Hakennasen, den Semiten du erliegen?
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Von den Früchten deines Schweißes mästen sich die faulen Drohnen,
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Die, verjagt aus ihrer Heimath, nun an deinem Herde wohnen.
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Schlimmer sind sie, weil sie schlauer, als ein neues Volk der Hunnen;
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Sie vergiften in der Stille deines Geistes laut’re Brunnen,
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Und sie nehmen dir allmälig listig deine letzten Rechte,
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Denn es stehen schon zu ihnen viele tausende Judenknechte.
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Mit dem schnöden Mammon kaufen sie die Seelen wie die Leiber –
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Sie die Schlächter, ihr die Herde, die Bestochenen die Treiber!
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‚Los von Rom!‘ war Luther’s Losung und er rettete den Norden;
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Los von Israel! so ruf’ ich – höchste Zeit ist es geworden.
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Könnten wir hinaus sie treiben aus den deutschen Eichenhainen,
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Würde das mir als das Beste, weil das Kürzeste, erscheinen,
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Aber da in Palästina schwerlich Platz für ihre Massen,
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Müssen der Beschnitt’nen Horden unbedingt sich taufen lassen.
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Doch auch dann noch ist der Jude eine inferiore Rasse –
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Auch getauft noch muß er bleiben stets ein Deutscher zweiter Klasse.
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Dann nur kann die Auferstehung, die uns Allen Noth thut, glücken,
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Wenn den Daumen wir aufs Auge fest den schlimmen Juden drücken,
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Denn wenngleich sie ihren Glauben scheinbar reuig abgeschworen,
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Haben sie’s nach Väterweise doch noch faustdick hinter’n Ohren!“
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Also sprach er und es fielen zu ihm viele Tausend Stimmen.
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Jener Geist, der unsre Gassen ließ im Blut der Juden schwimmen,
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Als zum heil’gen Grabe zogen Tausende in Christi Namen,
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War trotz Lessing nie erstorben; Stöcker rief und – Alle kamen!
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Daß sie kamen, wenn auch Alle im honetten „deutschen“ Kleide, –
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War’s zu danken nicht dem Dünkel, war’s zu danken nicht dem Neide?
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Ihrer Stimmen Jauchzen deckte wie ein Fluthschwall seine Worte –
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Des Propheten Jünger waren wirklich eine rare Sorte,
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Da die Ernsten und Gerechten, die des Judenthumes Schäden
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Wohl durchschauten, dieses Treiben mitzumachen doch verschmähten,
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Und erschreckt und angewidert von dem Lärm der Korybanten,
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Scham und Unmuth in der Seele, unberührt zur Seite standen.
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Eine schwarze Seite füllte so der Gottesmann vermessen
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In den Büchern der Geschichte – werden wir sie je vergessen?
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Und nachdem er so, ein Meister im Gehässigen und Schiefen,
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Haß und Zwietracht rastlos säend, aufgewühlt den Schlamm der Tiefen,
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Alle niedrigen Instinkte spannend vor den Siegeswagen,
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Der ihn in des Reichstags Hallen als Kartellkumpan getragen,
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Honig in die Ohren träufelnd den von Anfang geistig Blinden –
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Sehen wir in der Versenkung ihn urplötzlich nun verschwinden!
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Wie vermaßen sich die Seinen mit fanatischer Geberde,
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Daß sich nie der neue Luther einem Machtspruch beugen werde;
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Daß er eher auf die Kanzel und aufs Lehramt ganz verzichte,
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Als das Werk, das er begonnen, fahneflüchtig feig vernichte!
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Wie denn nun? Seid ihr noch immer von Begeistrung für ihn trunken?
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Nur ein Wink – und der Gesalbte ist gehorsam auch versunken!
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Von der Kanzel wird er wirken donnernd noch und flötend-leise,
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Doch sein Werk hat er verlassen – war das etwa Luther’s Weise?
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Trat in jenes Mönchleins Auge in der Nacht wohl eine Thräne,
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Ehe er sein trotzig Credo warf dem Kaiser in die Zähne?
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Nein, wollt ihr das Rüstzeug Gottes, Stöcker, irgendwem vergleichen,
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Bleibt mit Luther uns vom Leibe, denn ein Luther darf nicht weichen.
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Doch erlaubt, euch ein Andern zum Vergleiche vorzuschlagen,
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Einen Mann von gleichem Muthe, einen Mann aus unsern Tagen,
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Und dann nennt, - in dem Vergleiche läge sicher etwas Wahres! –
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Nennt, der kläglich euch verrathen, Boulanger ihn des Talares!

Details zum Gedicht „Einem Verschwindenden“

Anzahl Strophen
1
Anzahl Verse
72
Anzahl Wörter
702
Entstehungsjahr
1893
Epoche
Naturalismus,
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Einem Verschwindenden“ wurde von Rudolf Lavant verfasst, der von 1844 bis 1915 lebte. Es lässt sich somit in die Epoche des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts einordnen, was der literarischen Strömung des Realismus bzw. der beginnenden literarischen Moderne entspricht.

Beim ersten Eindruck wird schnell deutlich, dass es sich hierbei um eine sehr kritische Auseinandersetzung mit einer konkreten Person handelt, die als „Verschwindender“ bezeichnet wird. Der Ton des Gedichts ist stark polemisch und erinnert an eine Satire.

Der Inhalt des Gedichts beleuchtet die Reden und Handlungen einer Figur, die sich als Verteidiger von Gott und des „Deutschtums“ aufspielt. Dabei geht der Autor stark auf die antijüdische Rhetorik dieser Figur ein und kritisiert diese scharf. Er zeigt auf, wie der „Verschwindende“ Hass und Zwietracht säht und stellt seine Taten und Worte als kalkulierte Manipulation dar. Am Ende des Gedichts verschwindet diese Figur plötzlich aus der Öffentlichkeit, was vom lyrischen Ich mit Häme kommentiert wird.

In Bezug auf die Form fällt auf, dass das Gedicht sehr lang ist und aus einer einzigen Strophe mit 72 Versen besteht. Die Sprache von Lavant ist komplex und reich an Bildern und Anspielungen. Zudem verwendet er eine starke Ironie und übt auf diese Weise Kritik an der präsentierten Figur. In seiner pointierten Sprache und sorgsam gewählten Metaphorik offenbart sich Lavants Fähigkeit, soziale und politische Missstände aufzugreifen und zu kritisieren.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Lavant in „Einem Verschwindenden“ auf satirische Weise eine Figur kritisiert, die er als gefährlich und manipulativ darstellt. Dabei nutzt er die Form des Gedichts, um seine Kritik eindrücklich und facettenreich zu formulieren.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Einem Verschwindenden“ ist Rudolf Lavant. Geboren wurde Lavant im Jahr 1844 in Leipzig. Im Jahr 1893 ist das Gedicht entstanden. Stuttgart ist der Erscheinungsort des Textes. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zu den Epochen Naturalismus oder Moderne zu. Bei Verwendung der Angaben zur Epoche prüfe bitte die Richtigkeit der Zuordnung. Die Auswahl der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen und muss daher nicht unbedingt richtig sein. Das 702 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 72 Versen mit nur einer Strophe. Der Dichter Rudolf Lavant ist auch der Autor für Gedichte wie „Agrarisches Manifest“, „An Herrn Crispi“ und „An das Jahr“. Zum Autor des Gedichtes „Einem Verschwindenden“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 96 Gedichte vor.

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