Alcest von Christian Fürchtegott Gellert

Alcest, den mancher Kummer drückte,
Der, weil er sich nicht zu dem Laster schickte
Noch sich vor reichen Toren bückte,
Bei Fleiß und Kunst sich elend sah,
Stund neulich traurig auf. Freund, geht dir dies nicht nah',
Daß viele Kluge darben müssen,
Bloß weil sie mehr als andre wissen
Und zu Betrug und List zu blind,
Zu groß zu Prahlerei und Wind,
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Nicht knechtisch g'nug zu Schmeichlern sind?
 
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O Freund! bedaure doch Alcesten,
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Ihn, den itzt schwere Sorgen preßten;
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Ihn, der von einem Buch beschämt zum andern schlich
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Und doch dem Kummer nicht entwich;
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Ihn, der sich laut durch manchen Trostgrund lehrte
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Und doch sein Herz viel lauter seufzen hörte:
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Der herzhaft zu sich selber sprach:
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»Gott lebt, Gott herrscht und hört dein Ach!
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Er hört, so groß er ist, der jungen Raben Flehen;
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Drum ist er nicht zu groß, auch dir mit beizustehen«;
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Und der, indem er dieses sprach,
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Doch noch im Herzen rief: »Wie wird dir's künftig gehen?«
 
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Der beste Trostgrund blieb noch schwach;
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Denn welch bekümmert Herz besiegt man gleich mit Gründen?
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Es fühlt der starken Gründe Kraft
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Und flieht zurück in seine Leidenschaft,
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Um jener Macht nicht zu empfinden.
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Alcest beschloß zu seinem Freund zu gehn,
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Den er zween Tage nicht gesehn.
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»Er«, sprach er, »ist es wert«, und fing schon an zu gehn,
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»Daß ich zu ihm mit meinem Kummer eile
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Und meinen Kummer mit ihm teile;
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In Damons Arm, wenn Damon mit mir spricht,
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Wird die Geduld, die sonst so schwere Pflicht,
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Mir lange so beschwerlich nicht.«
 
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Er eilt mit sehnsuchtsvollem Herzen,
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Wie nach dem Arzt ein Siecher, der sonst schleicht,
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In Hoffnung schneller geht und hoffend seine Schmerzen
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Nicht fühlt noch merkt, wie sehr er keucht,
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Bis er des Arztes Haus erreicht.
 
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In diesem brennenden Verlangen,
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Den treuen Damon zu umfangen,
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Tritt er ins Haus und eilt die Treppe schnell hinauf.
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Der Vorsaal wimmelte von Leuten:
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Alcest erschrickt. »Gott! was soll das bedeuten?«
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Er tritt herein; und seht, man bahrt den Damon auf!
 
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Er kehrte von dem toten Freunde
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Nach einem letzten Kuß zurück.
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Die Sorgen, seiner Ruhe Feinde,
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Entwichen in dem Augenblick.
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»Was«, sprach er, »will ich mich denn quälen?
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Kann mich der Tod so bald entseelen,
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Was nützt mir alles Glück der Welt?
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Um froh zu sterben, will ich leben.
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Der Herr, der alles Fleisch erhält,
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Wird mir, so viel ich brauche, geben.
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Ihm wert zu sein, der Tugend nachzustreben,
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Dies sei mein Kummer auf der Welt!«
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (29.1 KB)

Details zum Gedicht „Alcest“

Anzahl Strophen
6
Anzahl Verse
58
Anzahl Wörter
406
Entstehungsjahr
1715 - 1769
Epoche
Aufklärung

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Alcest“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Christian Fürchtegott Gellert. Der Autor Christian Fürchtegott Gellert wurde 1715 in Hainichen geboren. Zwischen den Jahren 1731 und 1769 ist das Gedicht entstanden. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zur Epoche Aufklärung zu. Bei Gellert handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das 406 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 58 Versen mit insgesamt 6 Strophen. Der Dichter Christian Fürchtegott Gellert ist auch der Autor für Gedichte wie „Das Glück und die Liebe“, „Die beiden Wandrer“ und „Die Lerche“. Zum Autor des Gedichtes „Alcest“ haben wir auf abi-pur.de weitere 164 Gedichte veröffentlicht.

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