Einem Baubruder von Louise Otto-Peters

An die Vigilien, die wir gehalten
Vor inhaltsvollen, heil’gen Festestagen
Denk’ ich entzückt wie an ein Flügelschlagen
Des Genius, trotz irdischer Gewalten.
 
Denk’ ich mit andachtsvollem Händefalten!
Denn ob dem Niederen emporgetragen
Von der Begeistrung goldnem Sonnenwagen,
Umringten uns nur himmlische Gestalten.
 
Wie einstens jene frommen Brüderschaften,
10 
Die sich dem Dienst der heil’gen Baukunst weihten,
11 
Profanem Wesen siegreich sich entrafften:
 
12 
So soll auch uns ein heilig Paßwort leiten,
13 
Für des vereinten Strebens Reinheit haften,
14 
Und in den Kampf des Lebens uns begleiten.
 
15 
II.
 
16 
Das Paßwort, das gleich einem Sonnenstrahle
17 
Den Pfad zum Ziele zeigt, lichtübergossen,
18 
Bauhütten öffnet, die uns sonst verschlossen,
19 
Dies Paßwort heißt: Getreu dem Ideale.
 
20 
Vor dieser Losung sind mit einem male
21 
Verscheucht die Thoren, die es stets verdrossen,
22 
Wenn keusche Seelen Himmelstrank genossen,
23 
Entquollen einem wunderreichen Grale.
 
24 
Wir aber sind durch dieses Wort verbunden
25 
Mit heilgem Band, durch keine Macht zu trennen,
26 
Seit wir uns so auf gleichem Pfad gefunden!
 
27 
Und wollen kühn vor einer Welt bekennen,
28 
Daß wandellos, schlüg’ sie uns drum auch Wunden,
29 
Wir Streiter uns fürs Ideale nennen.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.2 KB)

Details zum Gedicht „Einem Baubruder“

Anzahl Strophen
9
Anzahl Verse
29
Anzahl Wörter
176
Entstehungsjahr
1860-1870
Epoche
Realismus

Gedicht-Analyse

Das vorgestellte Gedicht „Einem Baubruder“ wurde von Louise Otto-Peters verfasst, welche von 1819 bis 1895 lebte. Die Autorin zählt zur Epoche des Realismus, und sie ist besonders bekannt für ihre Rolle in der Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts.

Bei einem ersten Blick auf das Gedicht fällt auf, wie die Autorin spirituelle und sakrale Elemente mit Impulsen der Aufklärung kombiniert, um eine Botschaft der Hoffnung und des gemeinsamen Strebens zu übermitteln. Die Strophen sind auf verschiedene Weisen strukturiert, mit einer Mischung aus Vier- und Dreizeilern.

Das lyrische Ich im Gedicht reflektiert seine gemeinsamen Erfahrungen mit einem „Baubruder“, also einem Partner oder Freund. Es erinnert sich an gemeinsame Vigilien, die metaphorisch als Flügelschläge eines Genius, also eines Geistes mit kreativem Feuer, beschrieben werden. Die Begeisterung und das gemeinsame Streben nehmen Formen von himmlischen Gestalten und „goldnem Sonnenwagen“ an. Es wird eine starke Assoziation mit der Freimaurerei und ihren Ritualen und Symbolen hergestellt.

Die Struktur des Gedichts ist strenge und geordnet, mit vier Versen in den ersten beiden Strophen, drei Versen in den nächsten zwei Strophen, gefolgt von einer Strophe, die ein neues Segment des Gedichts einführt, und dann drei folgenden Strophen, von denen jede aus vier, vier und drei Versen besteht. Diese kohärente Struktur vermittelt ein Gefühl von Ordnung und Kontinuität.

Sprachlich gesehen verwendet das Gedicht eine gehobene, fast altertümliche Sprache mit vielen Bildern und Metaphern. Besonders auffällig ist hier die Idee des Strebens, die durch Begriffe wie „Genius“, „Begeisterung“, „goldnem Sonnenwagen“ und „Passwort“ verkörpert wird. Diese Aspekte, kombiniert mit der religiösen Symbolik und der betonten Gemeinschaft („Brüderschaften“, „vereintes Streben“), vermitteln das Bild einer erhabenen, fast sakralisierten Suche nach Wahrheit und Verständnis.

Das „heilige Passwort“ lautet „Getreu dem Ideale“, was das Streben der Protagonisten nach hoher moralischer und geistiger Reinheit unterstreicht. Sie verpflichten sich auf einen gemeinsamen Weg zur Verwirklichung ihrer Ideale und auf eine rebellische Position gegenüber der Welt, die ihre Ideale missversteht oder ablehnt. Der Schlusssatz macht dieses rebellische Element besonders deutlich, wenn es heißt, dass sie sich stolz „Streiter fürs Ideale“ nennen, selbst wenn die Welt sie dafür verurteilen oder verletzten sollte. Dies ist eine deutliche Referenz an Louises Engagement in der Frauenbewegung ihrer Zeit und unterstreicht die Fortschrittlichkeit ihrer Gedanken.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Einem Baubruder“ der Autorin Louise Otto-Peters. Im Jahr 1819 wurde Otto-Peters in Meißen geboren. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1870. Der Erscheinungsort ist Leipzig. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten der Autorin her lässt sich das Gedicht der Epoche Realismus zuordnen. Bei Verwendung der Angaben zur Epoche prüfe bitte die Richtigkeit der Zuordnung. Die Auswahl der Epoche ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen und muss daher nicht unbedingt richtig sein. Das 176 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 29 Versen mit insgesamt 9 Strophen. Louise Otto-Peters ist auch die Autorin für das Gedicht „An Ludwig Börne“, „An Richard Wagner“ und „Auf dem Kynast“. Zur Autorin des Gedichtes „Einem Baubruder“ haben wir auf abi-pur.de weitere 106 Gedichte veröffentlicht.

+ Wie analysiere ich ein Gedicht?

Daten werden aufbereitet

Weitere Gedichte des Autors Louise Otto-Peters (Infos zum Autor)

Zum Autor Louise Otto-Peters sind auf abi-pur.de 106 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.