Eine Zuschauerin im Flughafen von Joachim Ringelnatz

„Nie wieder wird’s Menschen geben,
Die so viel erleben,
Wie wir, in unsrer gigantischen Zeit!
Der Weltkrieg und die ihm folgenden Leiden –
Wird keiner auch uns darum beneiden –
Haben doch alles, was in der Welt
Früher geschah, in den Schatten gestellt.
O unsre Zeit! Und speziell unser Land!“
 
Der Platzleiter bückte sich, hob galant
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Ein Buch auf, gab’s mit der linken Hand
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Der Dame zurück, nicht mit der rechten.
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(Er war im Kriege in Luftgefechten
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Dreimal abgeschossen und rühmlichst bekannt.)
 
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„Danke. – Ach, wie der Gedanke erhebt:
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Nie wird – Nie hat eine Generation
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Soviel Erfindungen neu erlebt.
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Denken Sie nur an Edison,
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An Fahrrad, Auto und Grammophon,
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An Kino, Radio, Röntgenstrahlen,
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Schon Trambahn, Rohrpost und Salvarsan.
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All das hat unsere Zeit getan!
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Und was noch folgt, ist kaum auszumalen.
 
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Wir schreiten weiter von Siegen zu Siegen.
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Nicht Fortschritt mehr, sondern Fortflug. Wir fliegen
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Empor. Wir werden zu höheren Fernen
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Schweben, zum Mars und zu sämtlichen Sternen.
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Wir werden vielleicht
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Die alleräußerste Peripherie
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Des Weltalls erreichen. – –
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Ich danke Ihnen, das haben Sie
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Und Ihresgleichen
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Durch Ihr Genie und durch Mut erreicht.“
 
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Die Dame schwieg, und sie fächelte
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Mit ihren Armen, als wollte sie fliegen.
 
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Der Flugplatzleiter lächelte.
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„Bin oft nach der Sonne zu aufgestiegen“,
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So sagte er heiter,
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„Doch zog sie sich immer um jedes Stück
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Meiner erstrebten Annäherung weiter
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Und höher zum alten Abstand zurück.“
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27 KB)

Details zum Gedicht „Eine Zuschauerin im Flughafen“

Anzahl Strophen
6
Anzahl Verse
40
Anzahl Wörter
226
Entstehungsjahr
1929
Epoche
Moderne,
Expressionismus

Gedicht-Analyse

Das von Ihnen genannte Gedicht trägt den Titel „Eine Zuschauerin im Flughafen“ und stammt von Joachim Ringelnatz, einem deutschen Schriftsteller und Kabarettist, der von 1883 bis 1934 lebte. Das Gedicht entstand also vermutlich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in einer Zeit großer technologischer Entwicklungen und tiefgreifender gesellschaftlicher Umwälzungen.

Auf den ersten Blick eröffnet das lyrische Ich eine Reflexion über die gigantische Progression der menschlichen Geschichte, insbesondere während ihrer eigenen Lebenszeit. In der ersten Strophe wird die heutige Periode als eine Zeit des Umbruchs und der dramatischen Veränderungen porträtiert – durch den Weltkrieg und seine Folgen, aber auch durch die bemerkenswerte technologische Entwicklung.

In dem Dialog zwischen dem lyrischen Ich, einer Dame, und einem Flugplatzleiter wird einerseits die Bewunderung der Dame für den unaufhaltsamen technologischen Fortschritt hervorgehoben, andererseits wird durch den Flugplatzleiter eine etwas nüchterne und realistischere Sichtweise auf diesen Fortschritt angeboten. Während die Dame die Erfindungen ihrer Generation feiert und von der Eroberung des Weltalls träumt, erinnert der Flugplatzleiter daran, dass die Sonne, symbolisch für unsere Erreichbarkeit des Unbekannten, stets unerreichbar bleibt, egal wie weit wir fliegen.

In Form und Sprache ist das Gedicht gekennzeichnet durch freie Verse ohne festes Reimschema oder festen Metrum, was eine gewisse Offenheit und Freiheit suggeriert – möglicherweise ein Spiegelbild der beobachteten gesellschaftlichen Veränderungen. Die Sprache ist einfach und klar, und doch nicht ohne poetische Elemente, wie die symbolische Verwendung der Sonne im letzten Abschnitt. Abschließend könnte man sagen, dass dieses Gedicht die menschliche Faszination für den Fortschritt und die gleichzeitige Erkenntnis unserer begrenzten Erkenntnismöglichkeiten einfängt.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Eine Zuschauerin im Flughafen“ des Autors Joachim Ringelnatz. Geboren wurde Ringelnatz im Jahr 1883 in Wurzen. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1929. Erscheinungsort des Textes ist Berlin. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht den Epochen Moderne oder Expressionismus zuordnen. Bei Ringelnatz handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen. Das Gedicht besteht aus 40 Versen mit insgesamt 6 Strophen und umfasst dabei 226 Worte. Weitere bekannte Gedichte des Autors Joachim Ringelnatz sind „Abermals in Zwickau“, „Abgesehen von der Profitlüge“ und „Abglanz“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Eine Zuschauerin im Flughafen“ weitere 560 Gedichte vor.

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