Eine Sibylle von Rainer Maria Rilke
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Einst, vor Zeiten, nannte man sie alt. |
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Doch sie blieb und kam dieselbe Straße |
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täglich. Und man änderte die Maße, |
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und man zählte sie wie einen Wald |
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nach Jahrhunderten. Sie aber stand |
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jeden Abend auf derselben Stelle, |
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schwarz wie eine alte Zitadelle |
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hoch und hohl und ausgebrannt; |
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von den Worten, die sich unbewacht |
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wider ihren Willen in ihr mehrten, |
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immerfort umschrieen und umflogen, |
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während die schon wieder heimgekehrten |
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dunkel unter ihren Augenbogen |
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saßen, fertig für die Nacht. |
Details zum Gedicht „Eine Sibylle“
Rainer Maria Rilke
3
14
77
1918
Moderne
Gedicht-Analyse
Das Gedicht „Eine Sibylle“ wurde von Rainer Maria Rilke geschrieben, einem der bedeutendsten Lyriker der deutschsprachigen Literatur, der am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wirkte.
Auf den ersten Eindruck scheint es, dass das Gedicht ein melancholisches und nachdenkliches Bild einer alternden Frau zeichnet, die als eine Art konstante Figur in einer sich ständig verändernden Welt dargestellt wird.
Der Inhalt des Gedichts beschäftigt sich mit einer Figur, die „einst, vor Zeiten“, als alt bezeichnet wurde, aber immer noch auf derselben „Straße“ bleibt, was vielleicht metaphorisch für ihr Leben steht. Obwohl sie von den Menschen um sie herum als alt wahrgenommen wird, bleibt sie standhaft, jeden Abend auf derselben Stelle stehend, vergleichbar mit einer „alten Zitadelle“. In der dritten Strophe wird eine innere Dynamik der Figur beschrieben, die von Worten bewohnt wird, die sich „unbewacht wider ihren Willen in ihr“ mehren, was auf eine innere Kämpfe oder Unruhe hinweist.
Das lyrische Ich möchte wohl zum Ausdruck bringen, dass trotz äußeren Veränderungen und dem Vergehen der Zeit, die innere Welt eines Individuums mit ihren Gedanken, Gefühlen und inneren Kämpfen Beständigkeit hält. Dies kann auch als Anerkennung der Weisheit und Erfahrung, die mit dem Alter kommen, verstanden werden.
Formal ist das Gedicht in drei Strophen gegliedert, mit einer abwechselnden Anzahl von Versen (vier, vier, sechs). Die Sprache ist eher einfach gehalten, mit klaren und leicht verständlichen Formulierungen, aber mit einer gewissen metaphorischen Tiefe. Rilke nutzt bildhafte Vergleiche („zählte sie wie einen Wald“, „schwarz wie eine alte Zitadelle“) und Symbolik, um das Alter und die innere Welt der titelgebenden Sibylle darzustellen. Es fehlt jedoch an einem konsequenten und klaren Reimschema, was zur allgemeinen melancholischen und nachdenklichen Stimmung des Gedichts beiträgt.
Weitere Informationen
Rainer Maria Rilke ist der Autor des Gedichtes „Eine Sibylle“. 1875 wurde Rilke in Prag geboren. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1918. Leipzig ist der Erscheinungsort des Textes. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht der Epoche Moderne zuordnen. Bei dem Schriftsteller Rilke handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 77 Wörter. Es baut sich aus 3 Strophen auf und besteht aus 14 Versen. Weitere Werke des Dichters Rainer Maria Rilke sind „Advent“, „Allerseelen“ und „Als ich die Universität bezog“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Eine Sibylle“ weitere 338 Gedichte vor.
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