Ein ganzes Leben von Joachim Ringelnatz
1 |
„Weißt Du noch,“ so frug die Eintagsfliege |
2 |
Abends, „wie ich auf der Stiege |
3 |
Damals dir den Käsekrümel stahl?“ |
|
|
4 |
Mit der Abgeklärtheit eines Greises |
5 |
Sprach der Fliegenmann: „Gewiß, ich weiß es!“ |
6 |
Und er lächelte: „Es war einmal –“ |
|
|
7 |
„Weißt du noch“, so fragte weiter sie, |
8 |
„Wie ich damals unterm sechsten Knie |
9 |
Jene schwere Blutvergiftung hatte?“ – |
|
|
10 |
„Leider“, sagte halb verträumt der Gatte. |
|
|
11 |
„Weißt du noch wie ich, weil ich dir grollte, |
12 |
Fliegenleim-Selbstmord verüben wollte?? – |
13 |
Und wie ich das erste Ei gebar?? – |
14 |
Weißt du noch, wie es halb sechs Uhr war?? – |
15 |
Und wie ich in Milch gefallen bin?? – – |
|
|
16 |
Fliegenmann gab keine Antwort mehr, |
17 |
Summte leise, müde vor sich hin: |
18 |
„Lang, lang ist’s her – – lang – – –“ |
Details zum Gedicht „Ein ganzes Leben“
Joachim Ringelnatz
6
18
111
1933
Moderne,
Expressionismus
Gedicht-Analyse
Das hier analysierte Gedicht, „Ein ganzes Leben“, wurde von Joachim Ringelnatz verfasst, der von 1883 bis 1934 lebte. Somit fällt dieses Werk in die Zeit des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts.
Beim ersten Eindruck wirkt das Gedicht humorvoll und skurril, da hier Eintagsfliegen als Protagonisten agieren und menschenähnliche Gespräche führen. Sie blicken nostalgisch auf ihr kurzes Leben zurück und das lyrische Ich, die weibliche Eintagsfliege, erinnert ihren Mann an gemeinsame Erlebnisse, die in menschlichem Zeitempfinden nur kleine, unscheinbare Momente wären, für sie jedoch bedeutende Lebensereignisse darstellen.
Der Fliegenmann hingegen wird mit zunehmender Erinnerung an diese vergangenen Ereignisse weiter ins Leere starren. Er scheint seufzend und melancholisch auf diese kurzlebigen Ereignisse zurückzublicken.
In Bezug auf die Form hat das Gedicht verschiedene Strophenlängen und eine ungleichmäßige Verszahl innerhalb der Strophen. Dies gibt dem Gedicht eine etwas chaotische, ungeordnete Struktur, die möglicherweise die kurzlebige Natur des Fliegenlebens widerspiegelt.
Trotz der Kurzlebigkeit des Protagonisten und der möglicherweise humorvollen Umstände, haben die Verse des Gedichts einen ernsten Unterton. Der Autor verwendet eine formelle und poetische Sprache, um ein Gefühl von Ernsthaftigkeit und Feierlichkeit zu erzeugen. Das Gedicht zeigt in gewisser Weise den Zyklus des Lebens, obwohl es sich um einen sehr kurzlebigen Zyklus handelt.
Insgesamt stellt Ringelnatz mit seinem Gedicht eine Allegorie auf das menschliche Dasein dar. Trotz der kurzen Lebensspanne der Protagonisten, behandeln sie jedes Erlebnis mit äußerster Wichtigkeit und widmen ihm tiefe Erinnerung. Hier können Parallelen zur menschlichen Existenz gezogen werden: Wie die Fliegen erleben auch wir Menschen unser Leben intensiv, trotz der relativen Kürze unseres Daseins in der unendlichen Zeitspanne des Universums. Ein Gedicht, das auf den ersten Blick skurril erscheinen mag, enthüllt somit eine tiefgreifende Aussage über das Leben und die Vergänglichkeit.
Weitere Informationen
Das Gedicht „Ein ganzes Leben“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Joachim Ringelnatz. Geboren wurde Ringelnatz im Jahr 1883 in Wurzen. Im Jahr 1933 ist das Gedicht entstanden. Der Erscheinungsort ist Berlin. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text den Epochen Moderne oder Expressionismus zugeordnet werden. Bei Ringelnatz handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen. Das 111 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 18 Versen mit insgesamt 6 Strophen. Joachim Ringelnatz ist auch der Autor für Gedichte wie „Abschiedsworte an Pellka“, „Afrikanisches Duell“ und „Alone“. Zum Autor des Gedichtes „Ein ganzes Leben“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 560 Gedichte vor.
+ Mehr Informationen zum Autor / Gedicht einblenden.

+ Wie analysiere ich ein Gedicht?

Fertige Biographien und Interpretationen, Analysen oder Zusammenfassungen zu Werken des Autors Joachim Ringelnatz
Wir haben in unserem Hausaufgaben- und Referate-Archiv weitere Informationen zu Joachim Ringelnatz und seinem Gedicht „Ein ganzes Leben“ zusammengestellt. Diese Dokumente könnten Dich interessieren.
Weitere Gedichte des Autors Joachim Ringelnatz (Infos zum Autor)
- ...als eine Reihe von guten Tagen
- 7. August 1929
- Abendgebet einer erkälteten Negerin
- Abermals in Zwickau
- Abgesehen von der Profitlüge
- Abglanz
- Abschied von Renée
- Abschiedsworte an Pellka
- Afrikanisches Duell
- Alone
Zum Autor Joachim Ringelnatz sind auf abi-pur.de 560 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.
Freie Ausbildungsplätze in Deiner Region
besuche unsere Stellenbörse und finde mit uns Deinen Ausbildungsplatz
erfahre mehr und bewirb Dich direkt