Duo, dreistimmig von Kurt Tucholsky

Götz von Berlichingen und der General Cambronne
(derselbe, der damals in der Schlacht von
Waterloo nicht gesagt hat wie im Heldengedicht:
„Die Garde stirbt, doch sie ergibt sich nicht!“
Sondern er sagte nur schlicht:
„Merde!“) –
dieser General Cambronne und Götz von Berlichingen
trafen sich neulich im Café und täten daselbst singen:
 
„Wir, die Nationalheiligen zweier Nationen,
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die man uns anruft, wo nur Franzosen und Deutsche wohnen,
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haben uns hier pro Nase einen Mokka Dubel bestellt
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und betrachten zur Abwechslung einmal den Lauf der Welt.“
 
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Der Götz begann:
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„Was hältst du, Bruderherz, von den Demokraten,
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die noch in jeden Wein ihr Wasser abschlagen taten,
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vorsichtig,
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umsichtig,
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nachsichtig,
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kurzsichtig –
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und liegen immer unten. Was hältst du davon –?“
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„Merde –!“ sagte Cambronne.
 
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Und fuhr fort:
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„Was aber hältst du, Bruder, von den preußischen Richtern,
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diesen Vollzugsbeamten von Denkern und Dichtern?
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Wie sie nichts hören und nichts sehn – aber zuschlagen
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und um sich Jammer verbreiten und Klagen.
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Wie sie die Wehrlosen fangen in ihren Schlingen…?“
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„…!“ sagte der Götz von Berlichingen.
 
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Und fuhr fort:
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„Kennst du aber die uniformierten Burschen in allen Ländern,
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die in ihren bekleckerten Indianergewändern
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den nächsten Krieg vorbereiten? Mit dem Anspruch aufs Pantheon?“
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„Ah Merde –!“ sagte Cambronne.
 
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Und fuhr fort:
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„Kennst du aber die Theaterdirektoren?
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Jedem ist gerade ein neues Genie geboren,
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und besiehst du dir näher die göttliche Ware,
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ists ein Genie vom vorigen Jahre.
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Haben einen Augenfehler: schielen auf die Kritik
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und sitzen in einer Konjunktur-Fabrik.
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Wär gar nicht übel. Nur:
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es ist immer die falsche Konjunktur.
 
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Wirr. Unzuverlässig. Ja, was können sie denn vor allen Dingen –?“
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Da sagte es der Götz von Berlichingen.
 
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Und fuhr fort:
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„Was hältst du aber hingegen von den Parlamenten?
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Mit ihren Kommissionssitzungen und ihren Re- und Korreferenten?
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Bruder, sag mir, ist es bei euch das gleiche
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wie in unserm republikanischen Kaiserreiche?
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Das Ganze nennt man Demokratie –
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ist aber nur eine politische Schwerindustrie.
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Gut vor hundert Jahren. Heute: so alt, so alt –
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Kluge verlangen eine neue Staatengestalt.
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Dumme beharren bei ihrem kindlichen Eifer –
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Habt Ihr auch sozialdemokratische Dudelsackpfeifer?
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Wir haben sie. Prost, lieber Bruder, du!
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Was sagen nur unsre respektiven Wähler dazu –?
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Pfeift das nicht alles auf dem vorletzten Loche:
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Demokraten,
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Theater,
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Offiziere,
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Richter –
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Was sagen sie überhaupt zu dieser Epoche –?“
 
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Da standen beide auf: der Götz und der General Cambronne
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und zogen laut rufend die Konsequenz davon.
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Jeder sagte seinen Spruch. Die Tassen bebten. Und allen schien,
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als werde hier einem Weltenwunsch Ausdruck verliehn…
 
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„Merde –!“ sagte Cambronne. Und der andre der beiden Recken:
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„Sag ihnen allen, sie könnten mich und so weiter beklecken!“
 
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An der Wand, ganz heimlich, in guter Ruh,
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steht Theobald Tiger und gibt seinen Segen dazu.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (30.2 KB)

Details zum Gedicht „Duo, dreistimmig“

Anzahl Strophen
11
Anzahl Verse
71
Anzahl Wörter
435
Entstehungsjahr
1929
Epoche
Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit,
Exilliteratur

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Duo, dreistimmig“ wurde von Kurt Tucholsky verfasst, der von 1890 bis 1935 lebte und zu den bedeutendsten Publizisten der Weimarer Republik gehörte. Entsprechend lässt sich der Text auch in diese Zeit einordnen.

Beim ersten Lesen fällt auf, dass das Gedicht sowohl humoristische als auch kritische Elemente enthält. Es handelt sich um ein imaginäres Treffen zweier historischer Figuren (Götz von Berlichingen und General Cambronne) in einem Café, in der sie die Welt und die Politik diskutieren und ihre bekannten Flüche gegen verschiedene Aspekte der Gesellschaft richten.

Im Detail teilen die beiden Persönlichkeiten ihre abfälligen Meinungen über verschiedene gesellschaftliche und politische Gruppen wie Demokraten, preußische Richter, uniformierte Militärs, Theaterdirektoren und Parlamentarier. Sie äußern ihre Verachtung und Frustration in Form ihrer berühmten Flüche „Merde“ und „Er kann mich am Arsch lecken“. Das zeugt von ihrer Unzufriedenheit und Kritik an den herrschenden politischen Verhältnissen und dem allgemeinen gesellschaftlichen Zustand.

In Bezug auf die Form ist das Gedicht in verschiedene Strophen unterschiedlicher Länge gegliedert. Es folgt kein strenges Reim- und Versschema, was eher für einen freien Vers spricht. Es kommen sowohl direkte Rede als auch indirekte Rede vor, was das Gedicht dynamisch und lebendig macht.

Die Sprache von Tucholsky ist klar, direkt und gespickt mit Ironie und Satire. Er benutzt Humor und derben Ausdruck, um seine politischen und gesellschaftlichen Ansichten zu vermitteln und Kritik an der herrschenden Ordnung zu üben. Ein herausragendes Merkmal von Tucholskys Schreibstil ist sein Gebrauch von Alltagssprache und Umgangston, was sein Gedicht zugänglich und leicht verständlich macht.

Am Ende des Gedichts gibt 'Theobald Tiger', ein bekanntes Pseudonym von Tucholsky, seinen „Segen“ zu den Äußerungen der beiden Figuren, was eine weitere Bestätigung von Tucholskys kritischer Haltung verdeutlicht.

Zusammenfassend kann man sagen, dass „Duo, dreistimmig“ ein typisches Tucholsky-Gedicht ist, das seinen bitteren Humor und scharfen politischen Kommentar zum Ausdruck bringt. Es ist eine scharfzüngige Kritik an verschiedenen Aspekten der Weimarer Gesellschaft und Politik.

Weitere Informationen

Kurt Tucholsky ist der Autor des Gedichtes „Duo, dreistimmig“. Geboren wurde Tucholsky im Jahr 1890 in Berlin. Das Gedicht ist im Jahr 1929 entstanden. Erscheinungsort des Textes ist Berlin. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zu den Epochen Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit oder Exilliteratur zu. Tucholsky ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen.

Wichtigen geschichtlichen Einfluss auf die Literatur der Weimarer Republik hatten der Erste Weltkrieg und die daraufhin folgende Entstehung und der Fall der Weimarer Republik. Die Neue Sachlichkeit in der Literatur der Weimarer Republik ist von distanzierter Betrachtung der Welt und Nüchternheit gekennzeichnet und politisch geprägt. Es wurde eine alltägliche Sprache verwendet um mit den Texten so viele Menschen wie möglich anzusprechen. Viele Schriftsteller litten unter der Zensur in der Weimarer Republik. Im Jahr 1922 wurde nach einem Attentat auf den Reichsaußenminister das Republikschutzgesetz erlassen, das die zunächst verfassungsmäßig garantierte Freiheit von Wort und Schrift in der Weimarer Republik deutlich einschränkte. In der Praxis wurde dieses Gesetz allerdings nur gegen linke Autoren angewandt. Aber gerade die rechts gerichteten Schriftsteller waren es häufig, die in ihren Werken offen Gewalt verherrlichten. Die Grenzen der Zensur wurden im Jahr 1926 durch das sogenannte Schund- und Schmutzgesetz nochmals verstärkt. Die Beschlagnahmung von Schriften und das Verbot von Zeitungen wurden durch die Pressenotverordnung im Jahr 1931 ermöglicht.

Zur Zeit des Nationalsozialismus mussten viele Autoren ins Ausland fliehen. Dort entstand die sogenannte Exilliteratur. Ausgangspunkt der Exilbewegung ist der Tag der Bücherverbrennung im Jahr 1933 im nationalsozialistischen Deutschland. Alle nicht-arischen Werke wurden verboten und symbolträchtig verbrannt. In Folge dessen flohen viele Schriftsteller aus Deutschland. Die Exilliteratur der Literaturgeschichte Deutschlands bildet eine eigene Literaturepoche und folgt auf die Neue Sachlichkeit der Weimarer Republik. Themen wie Verlust der eigenen Kultur, existenzielle Probleme, Sehnsucht nach der Heimat oder Widerstand gegen den Nationalsozialismus sind typisch für diese Literaturepoche. Bestimmte formale Merkmale lassen sich jedoch nicht finden. Allerdings gab es einige neue Gattungen, die in dieser Literaturepoche geboren wurden. Das epische Theater von Bertolt Brecht oder auch die historischen Romane waren neue literarische Textsorten. Aber auch Flugblätter und Radioreden der Widerstandsbewegung sind hierbei als neue Textsorten erwähnenswert. Oftmals wurden die Texte auch getarnt, so dass sie trotz Zensur nach Deutschland gebracht werden konnten. Dies waren dann die sogenannten Tarnschriften.

Das vorliegende Gedicht umfasst 435 Wörter. Es baut sich aus 11 Strophen auf und besteht aus 71 Versen. Weitere bekannte Gedichte des Autors Kurt Tucholsky sind „Also wat nu – ja oder ja?“, „An Lukianos“ und „An Peter Panter“. Zum Autor des Gedichtes „Duo, dreistimmig“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 136 Gedichte vor.

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