Die zehnte Elegie von Rainer Maria Rilke

DASS ich dereinst, an dem Ausgang der grimmigen Einsicht,
Jubel und Ruhm aufsinge zustimmenden Engeln.
Daß von den klargeschlagenen Hämmern des Herzens
keiner versage an weichen, zweifelnden oder
reißenden Saiten. Daß mich mein strömendes Antlitz
glänzender mache: daß das unscheinbare Weinen
blühe. O wie werdet ihr dann, Nächte, mir lieb sein,
gehärmte. Daß ich euch knieender nicht, untröstliche Schwestern,
hinnahm, nicht in euer gelöstes
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Haar mich gelöster ergab. Wir, Vergeuder der Schmerzen.
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Wie wir sie absehn voraus, in die traurige Dauer,
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ob sie nicht enden vielleicht. Sie aber sind ja
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unser winterwähriges Laub, unser dunkeles Sinngrün,
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eine der Zeiten des heimlichen Jahres –, nicht nur
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Zeit –, sind Stelle, Siedelung, Lager, Boden, Wohnort.
 
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Freilich, wehe, wie fremd sind die Gassen der Leid-Stadt,
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wo in der falschen, aus Übertönung gemachten
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Stille, stark, aus der Gußform des Leeren der Ausguß,
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prahlt der vergoldete Lärm, das platzende Denkmal.
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O, wie spurlos zerträte ein Engel ihnen den Trostmarkt,
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den die Kirche begrenzt, ihre fertig gekaufte:
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reinlich und zu und enttäuscht wie ein Postamt am Sonntag.
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Draußen aber kräuseln sich immer die Ränder von Jahrmarkt.
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Schaukeln der Freiheit! Taucher und Gaukler des Eifers!
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Und des behübschten Glücks figürliche Schießstatt,
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wo es zappelt von Ziel und sich blechern benimmt,
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wenn ein Geschickterer trifft. Von Beifall zu Zufall
 
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taumelt er weiter; denn Buden jeglicher Neugier
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werben, trommeln und plärrn. Für Erwachsene aber
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ist noch besonders zu sehn, wie das Geld sich vermehrt, anatomisch,
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nicht zur Belustigung nur: der Geschlechtsteil des Gelds,
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alles, das Ganze, der Vorgang –, das unterrichtet und macht
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fruchtbar……….
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… O aber gleich darüber hinaus,
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hinter der letzten Planke, beklebt mit Plakaten des „Todlos“,
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jenes bitteren Biers, das den Trinkenden süß scheint,
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wenn sie immer dazu frische Zerstreuungen kaun…,
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gleich im Rücken der Planke, gleich dahinter, ists wirklich.
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Kinder spielen, und Liebende halten einander abseits,
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ernst, im ärmlichen Gras, und Hunde haben Natur.
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Weiter noch zieht es den Jüngling; vielleicht, daß er eine junge
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Klage liebt… Hinter ihr her kommt er in Wiesen. Sie sagt:
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Weit. Wir wohnen dort draußen…..
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Wo? Und der Jüngling
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folgt. Ihn rührt ihre Haltung. Die Schulter, der Hals –, vielleicht
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ist sie von herrlicher Herkunft. Aber er läßt sie, kehrt um,
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wendet sich, winkt… Was solls? Sie ist eine Klage.
 
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Nur die jungen Toten, im ersten Zustand
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zeitlosen Gleichmuts, dem der Entwöhnung,
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folgen ihr liebend. Mädchen
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wartet sie ab und befreundet sie. Zeigt ihnen leise,
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was sie an sich hat. Perlen des Leids und die feinen
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Schleier der Duldung. – Mit Jünglingen geht sie
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schweigend.
 
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Aber dort, wo sie wohnen, im Tal, der älteren eine der Klagen
 
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nimmt sich des Jünglings an, wenn er fragt: – Wir waren,
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sagt sie, ein großes Geschlecht, einmal, wir Klagen. Die Väter
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trieben den Bergbau dort in dem großen Gebirg; bei Menschen
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findest du manchmal ein Stück geschliffenes Urleid
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oder, aus altem Vulkan, schlackig versteinerten Zorn.
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Ja, der stammte von dort. Einst waren wir reich. –
 
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Und sie leitet ihn leicht durch die weite Landschaft der Klagen,
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zeigt ihm die Säulen der Tempel oder die Trümmer
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jener Burgen, von wo Klage-Fürsten das Land
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einstens weise beherrscht. Zeigt ihm die hohen
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Tränenbäume und Felder blühender Wehmut,
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(Lebendige kennen sie nur als sanftes Blattwerk);
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zeigt ihm die Tiere der Trauer, weidend, – und manchmal
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schreckt ein Vogel und zieht, flach ihnen fliegend durchs Aufschaun,
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weithin das schriftliche Bild seines vereinsamten Schreis. –
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Abends führt sie ihn hin zu den Gräbern der Alten
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aus dem Klage-Geschlecht, den Sibyllen und Warn-Herrn.
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Naht aber Nacht, so wandeln sie leiser, und bald
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mondets empor, das über alles
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wachende Grab-Mal. Brüderlich jenem am Nil,
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der erhabene Sphinx –: der verschwiegenen Kammer
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Antlitz.
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Und sie staunen dem krönlichen Haupt, das für immer,
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schweigend, der Menschen Gesicht
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auf die Wage der Sterne gelegt.
 
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Nicht erfaßt es sein Blick, im Frühtod
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schwindelnd. Aber ihr Schaun,
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hinter dem Pschent-Rand hervor, scheucht es die Eule. Und sie,
 
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streifend im langsamen Abstrich die Wange entlang,
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jene der reifesten Rundung,
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zeichnet weich in das neue
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Totengehör, über ein doppelt
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aufgeschlagenes Blatt, den unbeschreiblichen Umriß.
 
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Und höher, die Sterne. Neue. Die Sterne des Leidlands.
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Langsam nennt sie die Klage: „Hier,
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siehe: den ‚Reiter‘, den ‚Stab‘, und das vollere Sternbild
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nennen sie: ‚Fruchtkranz‘. Dann, weiter, dem Pol zu:
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‚Wiege‘, ‚Weg‘, ‚das brennende Buch‘, ‚Puppe‘, ‚Fenster‘.
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Aber im südlichen Himmel, rein wie im Innern
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einer gesegneten Hand, das klar erglänzende ‚M‘,
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das die Mütter bedeutet…..“
 
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Doch der Tote muß fort, und schweigend bringt ihn die ältere
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Klage bis an die Talschlucht,
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wo es schimmert im Mondschein:
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die Quelle der Freude. In Ehrfurcht
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nennt sie sie, sagt: „Bei den Menschen
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ist sie ein tragender Strom.“
 
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Stehn am Fuß des Gebirgs.
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Und da umarmt sie ihn, weinend.
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Einsam steigt er dahin, in die Berge des Urleids.
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Und nicht einmal sein Schritt klingt aus dem tonlosen Los.
 
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Aber erweckten sie uns, die unendlich Toten, ein Gleichnis,
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siehe, sie zeigten vielleicht auf die Kätzchen der leeren
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Hasel, die hängenden, oder
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meinten den Regen, der fällt auf dunkles Erdreich im Frühjahr. –
 
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Und wir, die an steigendes Glück
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denken, empfänden die Rührung,
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die uns beinah bestürzt,
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wenn ein Glückliches fällt.

Details zum Gedicht „Die zehnte Elegie“

Anzahl Strophen
14
Anzahl Verse
114
Anzahl Wörter
833
Entstehungsjahr
1912–1922
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das vorliegende Gedicht ist „Die zehnte Elegie“ des berühmten österreichischen Dichters Rainer Maria Rilke. Rilke lebte von 1875 bis 1926 und gehörte somit dem literarischen Expressionismus an. Bei den Elegien handelt es sich um eine Sammlung von zehn Gedichten, die Rilke in den Jahren 1912/1913 verfasst hat. Die Elegien sind geprägt von einer tiefgehenden Auseinandersetzung mit existentiellen Themen wie Liebe, Tod, Zeit und Vergänglichkeit.

Beim ersten Lesen fällt die stimmungsvolle, teils düstere Atmosphäre des Gedichtes auf. Es handelt sich hier um ein langes Gedicht mit 114 Versen und 14 Strophen, die allerdings ungleich lang sind. Das lyrische Ich durchstreift verschiedene Bereiche des Lebens und der menschlichen Erfahrung, beginnend mit der Freude, Leidenschaft und dem Ruhm, alle von Engeln abgesegnet. Im weiteren Verlauf gerät es in eine Art dunkle „Leid-Stadt“, die von falschen Prachten und grellen Vergnügungen geprägt ist. Der ständige Wechsel zwischen Momenten der Freude und des Leids wird dadurch unterstrichen.

Was das Gedicht genau aussagen will, ist nicht einfach zu benennen - wie so oft bei Rilke bleibt vieles mehrdeutig und offen. Das lyrische Ich scheint aber eine Art geistige Reise zu machen, bei der es sowohl Höhen als auch Tiefen durchlebt. Immer wieder tauchen dabei dunkle und traurige Bilder auf, die aber auch von Hoffnung und Stärke gekennzeichnet sind. Vielleicht geht es um die Einsicht, dass das Leben unvermeidlich Leid, aber eben auch Glück und Schönheit mit sich bringt. Es gibt immer wieder Hinweise auf eine innere Entwicklung, ein reifer Werden, ein tiefes Begreifen des eigenen Selbst und der eigenen Emotionen.

Form und Sprache des Gedichts sind, typisch für Rilke, sehr kunstvoll und komplex. Das Gedicht ist in freien Versen geschrieben, es gibt keinen Reim und kein regelmäßiges Metrum, was den freien Gedankenfluss und die innere Bewegung des lyrischen Ichs unterstreichen soll. Die Sprache ist bildhaft und metaphorisch, teils auch symbolisch, etwa wenn es um die „Engel“ oder die „Gassen der Leid-Stadt“ geht. Effektvolle sprachliche Bilder wie „die klargeschlagenen Hämmer des Herzens“ oder „der winterwährige Laub“ verdeutlichen die intensiven Gefühle und Gedanken des lyrischen Ichs.

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass „Die zehnte Elegie“ ein komplexes Gedicht ist, das sich erst bei mehrfachem Lesen voll erschließt. Jedes Mal kann man neue Aspekte und Bedeutungen entdecken. Es ist ein typisches Werk Rilkes, der immer wieder die Größe und Tiefe der menschlichen Existenz in ihrer ganzen Vielfalt und Widersprüchlichkeit zu umfassen versucht hat. Dennoch lässt es vielen Raum für eigene Interpretationen und Gedanken.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Die zehnte Elegie“ des Autors Rainer Maria Rilke. Geboren wurde Rilke im Jahr 1875 in Prag. 1922 ist das Gedicht entstanden. In Leipzig ist der Text erschienen. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text der Epoche Moderne zugeordnet werden. Bei dem Schriftsteller Rilke handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 833 Wörter. Es baut sich aus 14 Strophen auf und besteht aus 114 Versen. Weitere bekannte Gedichte des Autors Rainer Maria Rilke sind „Abend in Skaane“, „Absaloms Abfall“ und „Adam“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Die zehnte Elegie“ weitere 338 Gedichte vor.

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