Die siebente Elegie von Rainer Maria Rilke
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WERBUNG nicht mehr, nicht Werbung, entwachsene Stimme, |
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sei deines Schreies Natur; zwar schrieest du rein wie der Vogel, |
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wenn ihn die Jahreszeit aufhebt, die steigende, beinah vergessend, |
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daß er ein kümmerndes Tier und nicht nur ein einzelnes Herz sei, |
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das sie ins Heitere wirft, in die innigen Himmel. Wie er, so |
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würbest du wohl, nicht minder –, daß, noch unsichtbar, |
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dich die Freundin erführ, die stille, in der eine Antwort |
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langsam erwacht und über dem Hören sich anwärmt, – |
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deinem erkühnten Gefühl die erglühte Gefühlin. |
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O und der Frühling begriffe –, da ist keine Stelle, |
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die nicht trüge den Ton Verkündigung. Erst jenen kleinen |
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fragenden Auflaut, den mit steigernder Stille |
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weithin umschweigt ein reiner, bejahender Tag. |
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Dann die Stufen hinan, Ruf-Stufen hinan zum geträumten |
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Tempel der Zukunft –; dann den Triller, Fontäne, |
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die zu dem drängenden Strahl schon das Fallen zuvornimmt |
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im versprechlichen Spiel… Und vor sich, den Sommer. |
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Nicht nur die Morgen alle des Sommers –, nicht nur |
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wie sie sich wandeln in Tag und strahlen vor Anfang. |
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Nicht nur die Tage, die zart sind um Blumen, und oben, |
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um die gestalteten Bäume, stark und gewaltig. |
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Nicht nur die Andacht dieser entfalteten Kräfte, |
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nicht nur die Wege, nicht nur die Wiesen im Abend, |
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nicht nur, nach spätem Gewitter, das atmende Klarsein, |
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nicht nur der nahende Schlaf und ein Ahnen, abends… |
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sondern die Nächte! Sondern die hohen, des Sommers, |
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Nächte, sondern die Sterne, die Sterne der Erde. |
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O einst tot sein und sie wissen unendlich, |
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alle die Sterne: denn wie, wie, wie sie vergessen! |
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Siehe, da rief ich die Liebende. Aber nicht sie nur |
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käme… Es kämen aus schwächlichen Gräbern |
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Mädchen und ständen… Denn, wie beschränk ich, |
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wie, den gerufenen Ruf? Die Versunkenen suchen |
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immer noch Erde. – Ihr Kinder, ein hiesig |
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einmal ergriffenes Ding gälte für viele. |
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Glaubt nicht, Schicksal sei mehr als das Dichte der Kindheit; |
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wie überholtet ihr oft den Geliebten, atmend, |
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atmend nach seligem Lauf, auf nichts zu, ins Freie. |
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Hiersein ist herrlich. Ihr wußtet es, Mädchen, ihr auch, |
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die ihr scheinbar entbehrtet, versankt –, ihr, in den ärgsten |
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Gassen der Städte, Schwärende, oder dem Abfall |
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offene. Denn eine Stunde war jeder, vielleicht nicht |
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ganz eine Stunde, ein mit den Maßen der Zeit kaum |
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Meßliches zwischen zwei Weilen, da sie ein Dasein |
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hatte. Alles. Die Adern voll Dasein. |
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Nur, wir vergessen so leicht, was der lachende Nachbar |
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uns nicht bestätigt oder beneidet. Sichtbar |
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wollen wirs heben, wo doch das sichtbarste Glück uns |
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erst zu erkennen sich gibt, wenn wir es innen verwandeln. |
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Nirgends, Geliebte, wird Welt sein, als innen. Unser |
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Leben geht hin mit Verwandlung. Und immer geringer |
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schwindet das Außen. Wo einmal ein dauerndes Haus war, |
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schlägt sich erdachtes Gebild vor, quer, zu Erdenklichem |
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völlig gehörig, als ständ es noch ganz im Gehirne. |
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Weite Speicher der Kraft schafft sich der Zeitgeist, gestaltlos |
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wie der spannende Drang, den er aus allem gewinnt. |
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Tempel kennt er nicht mehr. Diese, des Herzens, Verschwendung |
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sparen wir heimlicher ein. Ja, wo noch eins übersteht, |
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ein einst gebetetes Ding, ein gedientes, geknietes –, |
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hält es sich, so wie es ist, schon ins Unsichtbare hin. |
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Viele gewahrens nicht mehr, doch ohne den Vorteil, |
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daß sie’s nun innerlich baun, mit Pfeilern und Statuen, größer! |
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Jede dumpfe Umkehr der Welt hat solche Enterbte, |
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denen das Frühere nicht und noch nicht das Nächste gehört. |
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Denn auch das Nächste ist weit für die Menschen. Uns soll |
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dies nicht verwirren; es stärke in uns die Bewahrung |
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der noch erkannten Gestalt. Dies stand einmal unter Menschen, |
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mitten im Schicksal stands, im vernichtenden, mitten |
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im Nichtwissen-Wohin stand es, wie seiend, und bog |
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Sterne zu sich aus gesicherten Himmeln. Engel, |
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dir noch zeig ich es, da! in deinem Anschaun |
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steh es gerettet zuletzt, nun endlich aufrecht. |
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Säulen, Pylone, der Sphinx, das strebende Stemmen, |
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grau aus vergehender Stadt oder aus fremder, des Doms. |
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War es nicht Wunder? O staune, Engel, denn wir sinds, |
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wir, o du Großer, erzähls, daß wir solches vermochten, mein Atem |
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reicht für die Rühmung nicht aus. So haben wir dennoch |
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nicht die Räume versäumt, diese gewährenden, diese, |
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unsere Räume. (Was müssen sie fürchterlich groß sein, |
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da sie Jahrtausende nicht unseres Fühlns überfülln.) |
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Aber ein Turm war groß, nicht wahr? O Engel, er war es, – |
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groß, auch noch neben dir? Chartres war groß – und Musik |
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reichte noch weiter hinan und überstieg uns. Doch selbst nur |
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eine Liebende, o, allein am nächtlichen Fenster… |
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reichte sie dir nicht ans Knie –? |
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Glaub nicht, daß ich werbe. |
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Engel, und würb ich dich auch! Du kommst nicht. Denn mein |
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Anruf ist immer voll Hinweg; wider so starke |
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Strömung kannst du nicht schreiten. Wie ein gestreckter |
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Arm ist mein Rufen. Und seine zum Greifen |
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oben offene Hand bleibt vor dir |
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offen, wie Abwehr und Warnung, |
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Unfaßlicher, weit auf. |
Details zum Gedicht „Die siebente Elegie“
Rainer Maria Rilke
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777
1912–1922
Moderne
Gedicht-Analyse
Das Gedicht „Die siebente Elegie“ ist von Rainer Maria Rilke, einem bedeutenden deutschsprachigen Lyriker des beginnenden 20. Jahrhunderts, verfasst worden. Geschrieben wurde es während seiner Schaffensperiode in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Bei einer ersten Analyse des Gedichts fallen viele Elemente auf, durch die sich Rilkes poetische Sprache auszeichnet. Eine lyrische, rhythmische Struktur mit reicher Metaphorik und malerischen Bildern lädt dazu ein, das vermeintlich Unfassbare und Unausgesprochene in Worte zu fassen.
Im Inhalt geht es um die tiefe Gedankenwelt des lyrischen Ichs, das Profanes und Transzendentes, sichtbare und unsichtbare Welten gegenüberstellt und nach dem Wert und der Bedeutung des Daseins strebt. Das lyrische Ich erforscht Fragen von Vergänglichkeit und lebensfüllender Bedeutung, verwebt diese mit Referenzen aus Kunst und Geschichte, und bezieht sich dabei auch auf die Beziehungen zu anderen, in diesem Fall auf die Liebe.
Die Form des Gedichts ist eine elegische Struktur, welche traditionell für Klagegesänge und Ausdruck tiefster Emotionen genutzt wird. Im Gegensatz zu einfachen metrischen Strukturen erzeugt sie eine starke Emotionalität und Intensität.
Die Sprache des Gedichts zeichnet sich durch eine reiche Metaphorik sowie eine komplexere Syntax aus. Es wird ein immersives Sprachbild geschaffen, welches eine intensive Emotionalität erzeugt. Rilkes Sprache ist dabei von bildhaften Umschreibungen und oft suggestiven, emotionalen Worten geprägt. Seine lyrische Stimme verbindet Elemente des Symbolismus und sprachliche Innovation, um die Beziehungen zwischen Innen und Außen, zwischen sichtbarer und unsichtbarer Welt herauszustellen.
Insgesamt bietet das Gedicht einen tiefen Einblick in Rilkes poetische Auseinandersetzung mit grundlegenden menschlichen Fragen und Emotionen durch seine intensive, symbolisch aufgeladene und oft rätselhafte Sprache.
Weitere Informationen
Rainer Maria Rilke ist der Autor des Gedichtes „Die siebente Elegie“. Der Autor Rainer Maria Rilke wurde 1875 in Prag geboren. Das Gedicht ist im Jahr 1922 entstanden. In Leipzig ist der Text erschienen. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text der Epoche Moderne zugeordnet werden. Der Schriftsteller Rilke ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 777 Wörter. Es baut sich aus 6 Strophen auf und besteht aus 93 Versen. Rainer Maria Rilke ist auch der Autor für Gedichte wie „Absaloms Abfall“, „Adam“ und „Advent“. Zum Autor des Gedichtes „Die siebente Elegie“ haben wir auf abi-pur.de weitere 338 Gedichte veröffentlicht.
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