Die sechste Elegie von Rainer Maria Rilke
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FEIGENBAUM, seit wie lange schon ists mir bedeutend, |
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wie du die Blüte beinah ganz überschlägst |
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und hinein in die zeitig entschlossene Frucht, |
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ungerühmt, drängst dein reines Geheimnis. |
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Wie der Fontäne Rohr treibt dein gebognes Gezweig |
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abwärts den Saft und hinan: und er springt aus dem Schlaf, |
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fast nicht erwachend, ins Glück seiner süßesten Leistung. |
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Sieh: wie der Gott in den Schwan. |
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…… Wir aber verweilen, |
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ach, uns rühmt es zu blühn, und ins verspätete Innre |
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unserer endlichen Frucht gehn wir verraten hinein. |
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Wenigen steigt so stark der Andrang des Handelns, |
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daß sie schon anstehn und glühn in der Fülle des Herzens, |
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wenn die Verführung zum Blühn wie gelinderte Nachtluft |
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ihnen die Jugend des Munds, ihnen die Lider berührt: |
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Helden vielleicht und den frühe Hinüberbestimmten, |
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denen der gärtnernde Tod anders die Adern verbiegt. |
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Diese stürzen dahin: dem eigenen Lächeln |
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sind sie voran, wie das Rossegespann in den milden |
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muldigen Bildern von Karnak dem siegenden König. |
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Wunderlich nah ist der Held doch den jugendlich Toten. Dauern |
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ficht ihn nicht an. Sein Aufgang ist Dasein; beständig |
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nimmt er sich fort und tritt ins veränderte Sternbild |
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seiner steten Gefahr. Dort fänden ihn wenige. Aber, |
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das uns finster verschweigt, das plötzlich begeisterte Schicksal |
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singt ihn hinein in den Sturm seiner aufrauschenden Welt. |
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Hör ich doch keinen wie ihn. Auf einmal durchgeht mich |
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mit der strömenden Luft sein verdunkelter Ton. |
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Dann, wie verbärg ich mich gern vor der Sehnsucht: O wär ich, |
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wär ich ein Knabe und dürft es noch werden und säße |
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in die künftigen Arme gestützt und läse von Simson, |
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wie seine Mutter erst nichts und dann alles gebar. |
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War er nicht Held schon in dir, o Mutter, begann nicht |
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dort schon, in dir, seine herrische Auswahl? |
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Tausende brauten im Schooß und wollten er sein, |
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aber sieh: er ergriff und ließ aus, wählte und konnte. |
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Und wenn er Säulen zerstieß, so wars, da er ausbrach |
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aus der Welt deines Leibs in die engere Welt, wo er weiter |
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wählte und konnte. O Mütter der Helden, |
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o Ursprung reißender Ströme! Ihr Schluchten, in die sich |
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hoch von dem Herzrand, klagend, |
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schon die Mädchen gestürzt, künftig die Opfer dem Sohn. |
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Denn hinstürmte der Held durch Aufenthalte der Liebe, |
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jeder hob ihn hinaus, jeder ihn meinende Herzschlag, |
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abgewendet schon, stand er am Ende der Lächeln, anders. |
Details zum Gedicht „Die sechste Elegie“
Rainer Maria Rilke
5
45
377
1912–1922
Moderne
Gedicht-Analyse
Das Gedicht „Die sechste Elegie“ stammt von Rainer Maria Rilke, einem der bedeutendsten Lyriker der Moderne. Er wurde am 4. Dezember 1875 geboren und starb am 29. Dezember 1926. Das Gedicht ist in der hochlyrischen Sprache Rilkes gehalten, deren Tiefe und Komplexität ein Markenzeichen seiner Arbeit ist.
Auf den ersten Blick wirkt das Gedicht wie eine komplexe und reich geschichtete Reflektion über Natur, Menschheit und Leben im Allgemeinen. Es kombiniert natürliche Bilder – wie den Feigenbaum und die Fontäne – mit menschlichen Aktivitäten und Gefühlen, um ein ausdrucksstarkes und emotionales Stimmungsbild zu erzeugen.
Im Kern ist das Gedicht ein Dialog des lyrischen Ichs mit sich selbst. Rilke nutzt den Feigenbaum als Metapher, um menschliche Existenz und Kreativität zu erforschen. Dabei eröffnet er mit der Betrachtung, wie der Baum seine Blüte in die Frucht drängt – eine Anspielung auf den natürlichen Zyklus von Geburt, Reife und Tod. Dies ist eine Metapher für das menschliche Leben, in dem das lyrische Ich die Tendenz der Menschen reflektiert, vom natürlichen Rhythmus des Lebens abzuweichen und ihr Bestes in den „endlichen Frucht“ zu investieren.
Die zweite und dritte Strophe befassen sich mit dem Konzept des Helden. Hier scheint Rilke die klassische heroische Reise zu dekonstruieren und in Frage zu stellen. In der vierten und fünften Strophe findet eine Hinwendung zur Mutterfigur statt, die als Hort der Liebe und potenzieller Quelle von Helden aufgefasst wird.
Formal ist das Gedicht eine Elegie, eine Gedichtform, die traditionell verwendet wird, um Trauer und Verlust auszudrücken. In Rilkes Händen wird sie jedoch zu einem Medium für tiefe und oft unerhörte Reflexionen über die Natur des menschlichen Lebens und Schicksals. Die Sprache des Gedichts ist reich an Bildern und Metaphern und zeichnet sich durch komplexe Syntax und innovative Wortbildung aus.
Abschließend lässt sich sagen, dass „Die sechste Elegie“ ein beeindruckendes Beispiel für Rilkes Fähigkeit ist, komplexe und abstrakte Themen durch Naturmetaphern, philosophische Reflexionen und innovative sprachliche Gestaltung anzusprechen. Es lädt den Leser dazu ein, über das Wesen des Lebens und die Rolle des Individuums innerhalb des größeren kosmischen Zyklus nachzudenken.
Weitere Informationen
Das Gedicht „Die sechste Elegie“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Rainer Maria Rilke. Im Jahr 1875 wurde Rilke in Prag geboren. 1922 ist das Gedicht entstanden. Leipzig ist der Erscheinungsort des Textes. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Moderne zuordnen. Bei dem Schriftsteller Rilke handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 45 Versen mit insgesamt 5 Strophen und umfasst dabei 377 Worte. Rainer Maria Rilke ist auch der Autor für Gedichte wie „Am Kirchhof zu Königsaal“, „Am Rande der Nacht“ und „An Julius Zeyer“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Die sechste Elegie“ weitere 338 Gedichte vor.
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