Die Zaren von Rainer Maria Rilke
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Das war in Tagen, da die Berge kamen: |
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die Bäume bäumten sich, die noch nicht zahmen, |
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und rauschend in die Rüstung stieg der Strom. |
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Zwei fremde Pilger riefen einen Namen, |
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und aufgewacht aus seinem langen Lahmen |
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war Ilija, der Riese von Murom. |
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Die alten Eltern brachen in den Aeckern |
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an Steinen ab und an dem wilden Wuchs; |
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da kam der Sohn, ganz groß, von seinen Weckern |
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und zwang die Furchen in die Furcht des Pflugs. |
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Er hob die Stämme die wie Streiter standen, |
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und lachte ihres wankenden Gewichts, |
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und aufgestört wie schwarze Schlangen wanden |
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die Wurzeln, welche nur das Dunkel kannten, |
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sich in dem breiten Griff des Lichts. |
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Es stärkte sich im frühen Thau die Mähre |
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in deren Adern Kraft und Adel schlief; |
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sie reifte unter ihres Reiters Schwere, |
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ihr Wiehern war wie eine Stimme tief, – |
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und beide fühlten wie das Ungefähre |
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sie mit verheißenden Gefahren rief. |
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Und reiten, reiten...vielleicht tausend Jahre. |
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Wer zählt die Zeit wenn einmal Einer will. |
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(Vielleicht saß er auch tausend Jahre still.) |
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Das Wirkliche ist wie das Wunderbare: |
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es mißt die Welt mit eigenmächtigen Maßen; |
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Jahrtausende sind ihm zu jung. |
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Weit schreiten werden welche lange saßen |
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in ihrer tiefen Dämmerung. |
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II |
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Noch drohen große Vögel allenthalben |
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und Drachen glühn und hüten überall |
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der Wälder Wunder und der Schluchten Fall; |
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und Knaben wachsen an und Männer salben |
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sich zu dem Kampfe mit der Nachtigall, |
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die oben in den Kronen von neun Eichen |
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sich lagert wie ein tausendfaches Thier, |
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Und abends geht ein Schreien ohnegleichen, |
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ein schreiendes Bis-an-das-Ende-Reichen |
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und geht die ganze Nacht lang aus von ihr; |
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die Frühlingsnacht, die schrecklicher als alles |
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und schwerer war und banger zu bestehn: |
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ringsum kein Zeichen eines Ueberfalles |
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und dennoch alles voller Uebergehn, |
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hinwerfend sich und Stück für Stück sich gebend, |
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ja jenes Etwas, welches um sich griff; |
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anrufend noch, am ganzen Leibe bebend |
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und darin untergehend wie ein Schiff. |
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Das waren Ueberstarke, die da blieben, |
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von diesem Riesigen nicht aufgerieben, |
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das aus den Kehlen wie aus Kratern brach; |
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sie dauerten und alternd nach und nach |
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begriffen sie die Bangnis der Aprile |
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und ihre ruhigen Hände hielten viele |
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und führten sie durch Furcht und Ungemach |
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zu Tagen, da sie froher und gesünder |
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die Mauern bauten um die Städtegründer |
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die über allem gut und kundig saßen. |
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Und schließlich kamen auf den ersten Straßen |
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aus Höhlen und verhaßten Hinterhalten |
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die Thiere, die für unerbittlich galten. |
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Sie stiegen still aus ihren Uebermaßen |
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(beschämte und veraltete Gewalten) |
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und legten sich gehorsam vor die Alten. |
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III |
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Seine Diener füttern mit mehr und mehr |
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ein Rudel von jenen wilden Gerüchten |
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die auch noch Er sind, alles noch Er. |
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Seine Günstlinge flüchten vor ihm her. |
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Und seine Frauen flüstern und stiften |
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Bünde. Und er hört sie ganz innen |
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in ihren Gemächern mit Dienerinnen, |
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die sich scheu umsehn, sprechen von Giften. |
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Alle Wände sind hohl von Schränken und Fächern, |
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Mörder ducken unter den Dächern |
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und spielen Mönche mit viel Geschick. |
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Und er hat nichts als einen Blick |
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dann und wann; als den leisen |
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Schritt auf den Treppen die kreisen; |
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nichts als das Eisen an seinem Stock. |
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Nichts als den dürftigen Büßerrock |
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(durch den die Kälte aus den Fliesen |
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an ihm hinaufkriecht wie mit Krallen) |
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nichts, was er zu rufen wagt, |
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nichts als die Angst vor allen diesen |
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nichts als die tägliche Angst vor allen |
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die ihn jagt durch diese gejagten |
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Gesichter an dunklen ungefragten |
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vielleicht schuldigen Händen entlang. |
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Manchmal packt er Einen im Gang |
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grade noch an des Mantels Falten |
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und er zerrt ihn zornig her; |
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aber im Fenster weiß er nicht mehr: |
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wer ist Haltender? Wer ist gehalten? |
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Wer bin ich und wer ist der? |
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IV |
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Es ist die Stunde da das Reich sich eitel |
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in seines Glanzes vielen Spiegeln sieht. |
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Der blasse Zar, des Stammes letztes Glied, |
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träumt auf dem Thron davor das Fest geschieht |
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und leise zittert sein beschämter Scheitel |
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und seine Hand die vor den Purpurlehnen |
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mit einem unbestimmten Sehnen |
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ins wirre Ungewisse flieht. |
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Und um sein Schweigen neigen sich Bojaren |
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in blanken Panzern und in Pantherfellen, |
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wie viele fremde fürstliche Gefahren |
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die ihn mit stummer Ungeduld umstellen. |
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Tief in den Saal schlägt ihre Ehrfurcht Wellen. |
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Und sie gedenken eines andern Zaren, |
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der oft mit Worten die aus Wahnsinn waren |
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ihnen die Stirnen an die Steine stieß. |
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Und denken also weiter: jener ließ |
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nicht so viel Raum wenn er zu Throne saß |
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auf dem verwelkten Sammt des Kissens leer. |
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Er war der Dinge dunkles Maß, |
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und die Bojaren wußten lang nicht mehr |
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daß rot der Sitz des Sessels sei, so schwer |
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lag sein Gewand und wurde golden breit. |
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Und weiter denken sie: das Kaiserkleid |
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schläft auf den Schultern dieses Knaben ein. |
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Obgleich im ganzen Saal die Fackeln flacken |
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sind bleich die Perlen, die in sieben Reihn |
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wie weiße Kinder knien um seinen Nacken |
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und die Rubine an den Aermelzacken |
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die einst Pokale waren, klar von Wein, |
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sind schwarz wie Schlacken – |
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Und ihr Denken schwillt. |
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Es drängt sich heftig an den blassen Kaiser, |
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auf dessen Haupt die Krone immer leiser |
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und dem der Wille immer fremder wird; |
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er lächelt. Lauter prüfen ihn die Preiser, |
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ihr Neigen nähert sich, sie schmeicheln heiser, |
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und eine Klinge hat im Traum geklirrt. |
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V |
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Der blasse Zar wird nicht am Schwerte sterben, |
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die fremde Sehnsucht macht ihn sakrosankt; |
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er wird die feierlichen Reiche erben, |
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an denen seine sanfte Seele krankt. |
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Schon jetzt, hintretend an ein Kremlfenster |
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sieht er ein Moskau, weißer, unbegrenzter, |
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in seine endlich fertige Nacht gewebt; |
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so wie es ist im ersten Frühlingswirken |
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wenn in den Gassen der Geruch aus Birken |
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von lauter Morgenglocken bebt. |
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Die großen Glocken die so herrisch lauten |
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sind seine Väter, jene ersten Zaren, |
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die sich noch vor den Tagen der Tataren |
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aus Sagen, Abenteuern und Gefahren, |
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aus Zorn und Demut zögernd auferbauten. |
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Und er begreift auf einmal wer sie waren |
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und daß sie oft um ihres Dunkels Sinn |
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in seine eignen Tiefen niedertauchten |
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und ihn, den Leisesten von den Erlauchten, |
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in ihren Thaten groß und fromm verbrauchten |
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schon lang vor seinem Anbeginn. |
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Und eine Dankbarkeit kommt über ihn |
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daß sie ihn so verschwenderisch vergeben |
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an aller Dinge Durst und Drang. |
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Er war die Kraft zu ihrem Ueberschwang, |
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der goldne Grund vor dem ihr breites Leben |
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geheimnisvoll zu dunkeln schien. |
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In allen ihren Werken schaut er sich |
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wie eingelegtes Silber in Zierraten, |
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und es gibt keine That in ihren Thaten |
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die nicht auch war in seinen stillen Staaten |
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in denen alles Handelns Roth verblich. |
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VI |
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Noch immer schauen in den Silberplatten |
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wie tiefe Frauenaugen die Saphiere, |
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Goldranken schlingen sich wie schlanke Thiere |
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die sich im Glanze ihrer Brünste gatten, |
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und sanfte Perlen warten in dem Schatten |
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wilder Gebilde, daß ein Schimmer ihre |
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stillen Gesichter finde und verliere. |
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Und das ist Mantel, Strahlenkranz und Land |
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und ein Bewegen geht von Rand zu Rand, |
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wie Korn im Wind und wie ein Fluß im Thale |
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so glänzt es wechselnd durch die Rahmenwand. |
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In ihrer Sonne dunkeln drei Ovale: |
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das große gibt dem Mutterantlitz Raum |
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und rechts und links hebt eine mandelschmale |
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Jungfrauenhand sich aus dem Silbersaum. |
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Die beiden Hände, seltsam still und braun, |
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verkünden daß im köstlichen Ikone |
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die Königliche wie im Kloster wohne, |
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die überfließen wird von jenem Sohne |
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von jenem Tropfen drinnen wolkenohne |
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die niegehofften Himmel blaun. |
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Die Hände zeugen noch dafür; |
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aber das Antlitz ist wie eine Thür |
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in warme Dämmerungen aufgegangen |
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in die das Lächeln von den Gnadenwangen |
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mit seinem Lichte irrend sich verlor. |
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Da neigt sich tief der Zar davor und spricht: |
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Fühltest Du nicht, wie sehr wir in Dich drangen |
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mit allem Fühlen, Fürchten und Verlangen: |
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wir warten auf Dein liebes Angesicht, |
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das uns vergangen ist; wohin vergangen? |
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Den großen Heiligen vergeht es nicht. |
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Er bebte tief in seinem steifen Kleid |
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das strahlend stand. Er wußte nicht wie weit |
203 |
er schon von allem war und ihrem Segnen |
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wie selig nah in seiner Einsamkeit. |
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Noch sinnt und sinnt der blasse Gossudar. |
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Und sein Gesicht das unterm kranken Haar |
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schon lange tief und wie im Fortgehn war, |
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verging, wie jenes in dem Goldovale, |
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in seinem großen goldenen Talar. |
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210 |
(Um ihrem Angesichte zu begegnen.) |
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211 |
Zwei Goldgewänder schimmerten im Saale |
212 |
und wurden in dem Glanz der Ampeln klar. |
Details zum Gedicht „Die Zaren“
Rainer Maria Rilke
42
212
1344
1899-1906
Moderne
Gedicht-Analyse
Der Autor des Gedichtes „Die Zaren“ ist Rainer Maria Rilke. Der Autor Rainer Maria Rilke wurde 1875 in Prag geboren. 1906 ist das Gedicht entstanden. Berlin / Leipzig, Stuttgart ist der Erscheinungsort des Textes. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text der Epoche Moderne zugeordnet werden. Rilke ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 212 Versen mit insgesamt 42 Strophen und umfasst dabei 1344 Worte. Der Dichter Rainer Maria Rilke ist auch der Autor für Gedichte wie „Abend“, „Abend“ und „Abend“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Die Zaren“ weitere 338 Gedichte vor.
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