Der alte Sänger von Adelbert von Chamisso

Sang der sonderbare Greise
Auf den Märkten, Straßen, Gassen
Gellend, zürnend seine Weise:
»Bin, der in die Wüste schreit.
Langsam, langsam und gelassen!
Nichts unzeitig! nichts gewaltsam!
Unablässig, unaufhaltsam,
Allgewaltig naht die Zeit.
 
Torenwerk, ihr wilden Knaben,
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An dem Baum der Zeit zu rütteln,
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Seine Last ihm abzustreifen,
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Wann er erst mit Blüten prangt!
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Laßt ihn seine Früchte reifen
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Und den Wind die Äste schütteln,
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Selber bringt er euch die Gaben,
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Die ihr ungestüm verlangt.«
 
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Und die aufgeregte Menge
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Zischt und schmäht den alten Sänger:
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»Lohnt ihm seine Schmachgesänge!
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Tragt ihm seine Lieder nach!
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Dulden wir den Knecht noch länger?
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Werfet, werfet ihn mit Steinen!
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Ausgestoßen von den Reinen
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Treff ihn aller Orten Schmach!«
 
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Sang der sonderbare Greise
26 
In den königlichen Hallen
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Gellend, zürnend seine Weise:
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»Bin, der in die Wüste schreit.
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Vorwärts! vorwärts! nimmer lässig!
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Nimmer zaghaft! kühn vor allen!
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Unaufhaltsam, unablässig,
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Allgewaltig drängt die Zeit.
 
33 
Mit dem Strom und vor dem Winde!
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Mache dir, dich stark zu zeigen,
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Strom- und Windeskraft zu eigen!
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Wider beide, gähnt dein Grab.
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Steure kühn in grader Richtung!
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Klippen dort? die Furt nur finde!
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Umzulenken heischt Vernichtung;
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Treibst als Wrak du doch hinab.«
 
41 
Einen sah man da erschrocken
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Bald erröten, bald erblassen;
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»Wer hat ihn herein gelassen,
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Dessen Stimme zu uns drang?
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Wahnsinn spricht aus diesem Alten;
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Soll er uns das Volk verlocken?
47 
Sorgt den Toren festzuhalten,
48 
Laßt verstummen den Gesang.«
 
49 
Sang der sonderbare Greise
50 
Immer noch im finstern Turme
51 
Ruhig, heiter seine Weise:
52 
»Bin, der in die Wüste schreit.
53 
Schreien mußt ich es dem Sturme;
54 
Der Propheten Lohn erhalt ich!
55 
Unablässig, allgewaltig,
56 
Unaufhaltsam naht die Zeit.«
Arbeitsblatt zum Gedicht
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Details zum Gedicht „Der alte Sänger“

Anzahl Strophen
7
Anzahl Verse
56
Anzahl Wörter
264
Entstehungsjahr
1781 - 1838
Epoche
Romantik

Gedicht-Analyse

Der Autor des Gedichtes „Der alte Sänger“ ist Adelbert von Chamisso. Im Jahr 1781 wurde Chamisso geboren. Das Gedicht ist in der Zeit von 1797 bis 1838 entstanden. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text der Epoche Romantik zugeordnet werden. Chamisso ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche.

Die Romantik ist eine kulturgeschichtliche Epoche, die vom Ende des 18. Jahrhunderts bis weit in das 19. Jahrhundert hinein dauerte und sich insbesondere auf den Gebieten der bildenden Kunst, der Literatur und der Musik äußerte. Auch die Gebiete Geschichte, Theologie und Philosophie sowie Naturwissenschaften und Medizin waren von ihren Auswirkungen betroffen. Die Epoche wird in Frühromantik (bis 1804), Hochromantik (bis 1815) und Spätromantik (bis 1848) unterschieden. Die Literaturepoche der Romantik entstand in Folge politischer Krisen und gesellschaftlicher Umbrüche. Im gesamten Europa fand ein Übergang von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft statt. Gleichermaßen bildete sich ein bürgerliches Selbstbewusstsein heraus. Technologischer Fortschritt und Industrialisierung sind prägend für diese Zeit. Die zentralen Motive der Romantik sind das Schaurige, Leidenschaftliche, Unterbewusste, Fantastische, Individuelle, Gefühlvolle und Abenteuerliche, welche die Grenzen des Verstandes sprengen und erweitern sollen und sich gegen das bloße Nützlichkeitsdenken sowie die Industrialisierung richten. Die Romantiker sehnen sich nach der Einheit von Geist und Natur. Ein Hinwenden zum Mittelalter ist erkennbar. So werden Kunst und Architektur dieser vergangenen Zeit geschätzt. Die Missstände dieser Zeit bleiben jedoch unerwähnt. Strebte die Klassik nach harmonischer Vollendung und Klarheit der Gedanken, so ist die Romantik von einer an den Barock erinnernden Maß- und Regellosigkeit geprägt. Die Romantik begreift die schöpferische Phantasie des Künstlers als unbegrenzt. Zwar baut sie dabei auf die Errungenschaften der Klassik auf. Deren Ziele und Regeln möchte sie aber hinter sich lassen.

Das vorliegende Gedicht umfasst 264 Wörter. Es baut sich aus 7 Strophen auf und besteht aus 56 Versen. Adelbert von Chamisso ist auch der Autor für Gedichte wie „Der Soldat“, „Die Mutter und das Kind“ und „Das Mädchen“. Zum Autor des Gedichtes „Der alte Sänger“ haben wir auf abi-pur.de weitere 146 Gedichte veröffentlicht.

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