Die Worte des Engels von Rainer Maria Rilke

Du bist nicht näher an Gott als wir;
wir sind ihm alle weit.
Aber wunderbar sind Dir
die Hände benedeit.
So reifen sie bei keiner Frau,
so schimmernd aus dem Saum:
ich bin der Tag, ich bin der Thau,
Du aber bist der Baum.
 
Ich bin jetzt matt, mein Weg war weit,
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vergib mir, ich vergaß
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was er, der groß in Goldgeschmeid
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wie in der Sonne saß,
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Dir künden ließ, Du Sinnende,
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(verwirrt hat mich der Raum).
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Sieh: Ich bin das Beginnende,
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Du aber bist der Baum.
 
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Ich spannte meine Schwingen aus
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und wurde seltsam weit;
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jetzt überfließt Dein kleines Haus
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von meinem großen Kleid.
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Und dennoch bist Du so allein
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wie nie und schaust mich kaum;
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das macht: Ich bin ein Hauch im Hain,
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Du aber bist der Baum.
 
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Die Engel alle bangen so,
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lassen einander los:
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noch nie war das Verlangen so,
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so ungewiß und groß.
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Vielleicht, dass etwas bald geschieht,
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das Du im Traum begreifst.
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Gegrüßt sei, meine Seele sieht:
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Du bist bereit und reifst.
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Du bist ein großes, hohes Tor,
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und aufgehn wirst Du bald.
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Du, meines Liedes liebstes Ohr,
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jetzt fühle ich: Mein Wort verlor
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sich in Dir wie im Wald.
 
38 
So kam ich und vollendete
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Dir tausendeinen Traum.
40 
Gott sah mich an; er blendete …
 
41 
Du aber bist der Baum.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.6 KB)

Details zum Gedicht „Die Worte des Engels“

Anzahl Strophen
6
Anzahl Verse
41
Anzahl Wörter
215
Entstehungsjahr
1906
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Die Worte des Engels“ wurde von dem Deutsch-Österreichischen Dichter Rainer Maria Rilke verfasst, der von 1875 bis 1926 lebte. Dies platziert das Werk in die Periode des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, eine Zeit, in der sich die europäische Literatur stark entwickelte und veränderte und neue Ausdrucksformen und Stile entstanden.

Beim ersten Lesen fällt die spirituelle und metaphysische Qualität des Gedichts auf. Es scheint eine intime Konversation zwischen einem Engel und einer menschlichen Einheit oder Seele zu sein, voller tiefer Fragen und Betrachtungen über das Wesen der Existenz.

Im Gedicht spricht das lyrische Ich, offensichtlich ein Engel, zu einer zweiten Partei – anscheinend einer menschlichen Seele oder einem Individuum. Der Engel greift verschiedene spirituelle und existenzielle Fragen auf und stellt dabei klar, dass Gott für alle Wesen unerreichbar ist, nicht nur für den Menschen. Der Engel betont das Besondere und Heilige, das in der menschlichen Seele zu finden ist, und bezeichnet sie als Baum, während er sich selbst als Tag, Thau und Hauch im Wald bezeichnet. Das lyrische Ich erklärt seine schwere Reise und sein Scheitern, eine bestimmte Botschaft zu vermitteln, betont jedoch erneut die Wichtigkeit und Einzigartigkeit des menschlichen Wesens. Der Engel spricht von einer besonderen Veränderung und prophezeit, dass die menschliche Seele bereit ist, etwas Großes und Wichtiges zu empfangen oder zu erfassen.

Das Gedicht hat eine sehr spezielle Struktur, die sich von Strophe zu Strophe ändert. Die ersten drei Strophen haben jeweils acht Verse, die vierte Strophe hingegen hat dreizehn. Die Sprache und Wortwahl von Rilke in diesem Gedicht sind komplex und metaphorisch. Sie zeugen von einer Auseinandersetzung mit tiefsinnigen philosophischen und spirituellen Fragen. Es vereint Elemente aus Bibel und christlicher Tradition mit symbolischen Metaphern aus der Natur, um ein dichtes, rhetorisch anspruchsvolles Gedicht zu gestalten, das zum Nachdenken und Interpretieren einlädt.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass „Die Worte des Engels“ ein tiefgründiges, spirituelles Gedicht ist, das eine Reihe von Fragen und Betrachtungen über das Wesen des Seins und des Lebens hervorruft. Durch die elegante Verwendung von Sprache und Metapher lädt es den Leser ein, sich auf eine tiefgehende und bereichernde lyrische Reise zu begeben.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Die Worte des Engels“ ist Rainer Maria Rilke. 1875 wurde Rilke in Prag geboren. Im Jahr 1906 ist das Gedicht entstanden. Erscheinungsort des Textes ist Berlin / Leipzig, Stuttgart. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Moderne zuordnen. Rilke ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das 215 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 41 Versen mit insgesamt 6 Strophen. Die Gedichte „Abend“, „Abend“ und „Abend“ sind weitere Werke des Autors Rainer Maria Rilke. Zum Autor des Gedichtes „Die Worte des Engels“ haben wir auf abi-pur.de weitere 338 Gedichte veröffentlicht.

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