Bestujeff von Adelbert von Chamisso

»Ihn wird der Zorn des Himmels doch zertrümmern.
Gott heißt Vergeltung in der Weltgeschichte,
Und läßt die Saat der Sünde nicht verkümmern.«
So klang es zu Jakutsk beim Sternenlichte
In kalter Nacht. Ein rüst'ger Jäger sang,
Gar seltnen Reiz verleihend dem Gedichte.
Ein fremdes Ohr belauschte den Gesang,
Ein Mann, der jüngst, der Wissenschaft zu frönen,
Bis hieher in das Reich des Winters drang:
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»Wer bist du, der die Nacht belebt mit Tönen?«
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»Wer du, der du mich fragst? das Lied ist mein,
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Du wirst es nicht zu singen mich entwöhnen.«
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»Gefraget hat ein Fremder dich allein,
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Weil ihn des Liedes mächt'ger Klang erfreute;
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Es lag ihm fern, unfreundlich dir zu sein.«
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»Sei mir gegrüßt, und nicht zum Argen deute
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Der ungemeßnen Rede flücht'ge Hast,
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Dieweil mir stolz zu sein geziemet heute.
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Komm in mein Haus, sei des Verbannten Gast;
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Ich werde dir berichten sonder Säumen,
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Was du zu wissen Lust bezeuget hast.
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Ich bin in dieses meines Grabes Räumen
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Ein freier Mann, und bin die Nachtigall,
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Die hier allnächtlich singt von ihren Träumen.
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Mir bleibt der freien Stimme voller Schall,
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Die volle Brust des ungebrochnen Mutes,
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Und der ich bin, der bin ich überall.
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Die Erde lehrt mich und der Himmel tut es,
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Die Sterne, welche kreisend zu mir sagen:
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Es treibt uns unablässig, nimmer ruht es.
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Sieh scheitelrecht dort über dir den Wagen,
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Noch lenkt er aufwärts, strebet noch hinan,
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Um zu der Tiefe jenseits umzuschlagen.
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Ich bin zur Tiefe kommen meiner Bahn,
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Ich oder andre müssen wieder steigen,
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Und was ich träumte, war kein leerer Wahn.
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Das wird am Tag der Völker bald sich zeigen,
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Denn hält die Waage schwankend sich noch gleich,
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So muß die volle Schale doch sich neigen.
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Gewürfelt hab ich um ein Kaiserreich;
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Noch einmal ist der kühne Wurf mißlungen,
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Er bot die Brust enblößt dem Todesstreich!
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Ich bin Bestujeff, welchen viele Zungen
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Relejeffs Mitverschworenen genannt,
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Dem er sein hohes Schwanenlied gesungen;
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Das Lied von Woinarowski, wo entbrannt
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Für Freiheit er sein Heiligstes gegeben,
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Weil, scheint es, er sein Los vorausgekannt.
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Noch hallt das Lied, zur Nachwelt wird es schweben,
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Er aber hat das Blutgerüst bestiegen;
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Ich muß ihn zu Jakutsk noch überleben!
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Dein Woinarowski sah dich unterliegen,
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O mein Mazeppa, und bewahrt dein Wort
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In seines Herzens Schreine goldgediegen.
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Du andrer Müller stehst am selben Ort,
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Um wieder gleiche Bilder zu betrachten,
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Die nimm du im Gedächtnis mit dir fort;
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Und wenn die guten Götter heim dich brachten,
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So gib den Stoff dem Dichter zum Gedicht;
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Er leb im Lied, den sie zu töten dachten.
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Das wird der andre Sang, der letzte nicht;
62 
Heil aber, dem der dritte vorbehalten!
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Der dritte heißt Vergeltung und Gericht.«
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Wie drohend noch Bestujeffs Worte hallten,
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Ward Licht am nord'schen Himmel ausgegossen
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Und einen Bogen sah man sich gestalten;
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Und aus dem Bogen blut'gen Lichtes schossen
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Gen Süden wundersame Funkengarben,
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Die neigend sich zum Horizont verflossen;
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Mit Zitterscheine wechselten die Farben;
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Die Sterne, wie der Lohe Säulen stiegen,
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Verloren ihre Strahlen und erstarben.
73 
Nach Norden starrten beide hin und schwiegen.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (30 KB)

Details zum Gedicht „Bestujeff“

Anzahl Strophen
1
Anzahl Verse
73
Anzahl Wörter
503
Entstehungsjahr
1829
Epoche
Romantik

Gedicht-Analyse

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Bestujeff“ des Autors Adelbert von Chamisso. Geboren wurde Chamisso im Jahr 1781 . Im Jahr 1829 ist das Gedicht entstanden. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text der Epoche Romantik zugeordnet werden. Bei Chamisso handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche.

Als Romantik wird die Epoche der Kunstgeschichte bezeichnet, deren Ausprägungen sich sowohl in der Literatur, Kunst und Musik als auch in der Philosophie niederschlugen. Die Epoche der Romantik lässt sich vom Ende des 18. Jahrhunderts bis ins späte 19. Jahrhundert verorten. Die literarische Romantik kann darauf aufbauend etwa auf die Jahre 1795 bis 1848 datiert werden. Die Romantik kann in drei Phasen aufgegliedert werden: Frühromantik (bis 1804), Hochromantik (bis 1815) und Spätromantik (bis 1848). Die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts galt im Allgemeinen als wissenschaftlich und aufstrebend, was hier vor allem durch die einsetzende Industrialisierung deutlich wird. Die damalige Gesellschaft wurde zunehmend technischer, fortschrittlicher und wissenschaftlicher. Diese Entwicklung war den Romantikern zuwider. Sie stellten sich in ihren Werken gegen das Streben nach immer mehr Gewinn, Fortschritt und das Nützlichkeitsdenken, das versuchte, alles zu verwerten. In der Romantik finden sich verschiedene charakteristische Motivkreise. Sehnsucht und Liebe (Blaue Blume) oder das Unheimliche (Spiegelmotiv) sind wichtige Motive. Aber auch politische Motive wie Weltflucht, Nationalismus und Gesellschaftskritik lassen sich aufzeigen. Das Mittelalter gilt bei den Romantikern als Ideal und wird verherrlicht. Übel und Missstände des Mittelalters bleiben unbeachtet. Die äußere Form von romantischer Literatur ist völlig offen. Kein festgesetztes Schema grenzt die Literatur ein. Dies steht ganz im Gegensatz zu den strengen Normen der Klassik. In der Romantik entstehen erstmals Sammlungen so genannter Volkspoesie. Bekannte Beispiele dafür sind Grimms Märchen und die Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn. Doch bereits direkt nach Erscheinen wurde die literarische Bearbeitung (Schönung) durch die Autoren kritisiert, die damit ihre Rolle als Chronisten weit hinter sich ließen.

Das vorliegende Gedicht umfasst 503 Wörter. Es baut sich aus nur einer Strophe auf und besteht aus 73 Versen. Der Dichter Adelbert von Chamisso ist auch der Autor für Gedichte wie „Der Soldat“, „Die Mutter und das Kind“ und „Das Mädchen“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Bestujeff“ weitere 146 Gedichte vor.

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