Die Westküsten von Christian Morgenstern

1	Die Westküsten traten eines Tages zusammen
2	und erklärten, sie seien keine Westküsten,
3	weder Ostküsten noch Westküsten –
4	,daß sie nicht wüßten!’
5	Sie wollten wieder ihre Freiheit haben
6	und für immer das Joch des Namens abschütteln,
7	womit eine Horde von Menschenbütteln
8	sich angemaßt habe, sie zu begaben.
9	Doch wie sich befreien, wie sich erretten
10	aus diesen widerwärtigen Ketten?
11	Ihr Westküsten, fing eine an zu spotten,
12	gedenkt ihr den Menschen etwan auszurotten?
13	Und wenn schon! rief eine andre schrill.
14	Wenn ich seine Magd nicht mehr heißen will?–
15	Dann blieben aber immer noch die Atlanten –
16	meinte eine von den asiatischen Tanten.
17	Schließlich, wie immer in solchen Fällen,
18	tat man eine Resolution aufstellen.
19	Fünfhundert Tintenfische wurden aufgetrieben,
20	und mit ihnen wurde folgendes geschrieben:
21	Wir Westküsten erklären hiermit einstimmig,
22	daß es uns nicht gibt, und zeichnen hochachtungsvoll:
23	Die vereinigten Westküsten der Erde. –
24	Und nun wollte man, daß dies verbreitet werde.
25	Sie riefen den Walfisch, doch er tat’s nicht achten;
26	sie riefen die Möven, doch die Möven lachten;
27	sie riefen die Wolke, doch die Wolke vernahm nicht;
28	sie riefen ich weiß nicht was, doch ich weiß nicht was kam nicht.
29	Ja, wieso denn, wieso? schrie die Küste von Ecuador:
30	Wärst du etwa kein Walfisch, du grober Tor?
31	Sehr richtig, sagte der Walfisch mit vollkommener Ruh:
32	Dein Denken, liebe Küste, dein Denken macht mich erst dazu.
33	Da war’s den Küsten, als säh’n sie sich im Spiegel:
34	ganz seltsam erschien ihnen plötzlich ihr Gewiegel.
35	Still schwammen sie heim, eine jede nach ihrem Land.
36	Und die Resolution, die blieb unversandt.

Details zum Gedicht „Die Westküsten“

Gedicht-Analyse

Christian Morgenstern ist der Autor des vorliegenden Gedichts. Morgenstern lebte von 1871 bis 1914 und sein Werk ist dem Symbolismus und der literarischen Moderne zuzuordnen. Das Gedicht „Die Westküsten“ ist dadurch charakterisiert, dass es auf humorvolle und absurde Weise die „Identitätskrise“ der Westküsten schildert.

Das lyrische Ich berichtet über die Westküsten der Welt, die zusammenkommen und verkünden, dass sie weder West- noch Ostküsten sind, sondern ihre eigene Identität und Freiheit wiedererlangen möchten. Sie fühlen sich durch die von Menschen auferlegten Namen eingeschränkt und in ihrer Existenz begrenzt. Es wird sogar überlegt, ob die Menschheit ausgelöscht werden sollte, um die Unabhängigkeit der Küsten zu gewährleisten, doch dann wird entschieden, dass die Atlanten, also die geschriebenen Karten, immer noch bestehen würden. Die Küsten beschließen schließlich, eine Resolution zu formulieren und zu verbreiten, dass es sie als Westküsten nicht gibt. Doch alle Versuche, diese Botschaft zu verbreiten, scheitern.

Die Aussage des lyrischen Ichs könnte dabei als satirische Kritik an Identitätsbildung und -festlegung durch äußerliche Benennungen und Definitionen gewertet werden. Die Angriffe auf den Menschen und die Satire auf bürokratische Lösungen könnte man als Kritik an menschlicher Anmaßung und Ineffizienz interpretieren.

Formal besteht das Gedicht aus neun Strophen mit je vier Versen. Morgenstern nutzt die klassische Form des gereimten Vierzeilers nicht, sondern verleiht dem Gedicht durch freie Verse und Wiederholungen einen rhythmischen Charakter. Die Wortwahl ist teilweise humorvoll und absurd, was zum grotesken Charakter des Gedichts beiträgt.

Die sprachlichen Mittel des Gedichts beinhalten einerseits personifizierte Westküsten, die ihre Unabhängigkeit erklären, und andererseits die absurde Vorstellung von Resolutionen, die von Tintenfischen geschrieben und von Walfischen und Möwen überbracht werden sollen. Diese Art von absurdem Humor zeichnet viele von Morgensterns Gedichten aus und unterstreicht die satirische Kritik an menschlicher Bevormundung und ineffektiven bürokratischen Prozessen.

Alles in allem reflektiert das Gedicht auf humorvoll absurde Weise kritische Ansichten zum menschlichen Bezug zur Natur und zur Effektivität von bürokratischen Prozessen.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Die Westküsten“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Christian Morgenstern. Der Autor Christian Morgenstern wurde 1871 in München geboren. In der Zeit von 1887 bis 1914 ist das Gedicht entstanden. Der Erscheinungsort ist Zürich. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text der Epoche Moderne zugeordnet werden. Der Schriftsteller Morgenstern ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 36 Versen mit insgesamt 9 Strophen und umfasst dabei 253 Worte. Der Dichter Christian Morgenstern ist auch der Autor für Gedichte wie „Bundeslied der Galgenbrüder“, „Da nimm. Das laß ich dir zurück, o Welt“ und „Das Auge der Maus“. Zum Autor des Gedichtes „Die Westküsten“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 189 Gedichte vor.

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