Die Wanderung von Johann Christian Friedrich Hölderlin
1 |
Glückselig Suevien, meine Mutter! |
2 |
Auch du, der glänzenderen, der Schwester |
3 |
Lombarda drüben gleich, |
4 |
Von hundert Bächen durchflossen. |
5 |
Und Bäume genug, weisblühend und rötlich, |
6 |
Und dunklere, wild, tiefgrünendes Laubs voll – |
7 |
Und Alpengebirg der Schweiz auch überschattet |
8 |
Benachbartes, dich; denn nah dem Heerde des Hauses |
9 |
Wohnst du, und hörst, wie drinnen |
10 |
Aus silbernen Opferschalen |
11 |
Der Quell rauscht, ausgeschüttet |
12 |
Von reinen Händen, wenn berührt |
|
|
13 |
Von warmen Strahlen |
14 |
Kristallenes Eis, und umgestürzt |
15 |
Vom leichtanregenden Lichte |
16 |
Der schneeige Gipfel übergiesst die Erde |
17 |
Mit reinestem Wasser. Darum ist |
18 |
Dir angeboren die Treue. Schwer verlässt |
19 |
Was nahe dem Ursprung wohnet, den Ort. |
20 |
Und deine Kinder, die Städte, |
21 |
Am weithin dämmernden See, |
22 |
An Neckars Weiden, am Rheine |
23 |
Sie alle meinen, es wäre |
24 |
Sonst nirgend besser zu wohnen. |
|
|
25 |
Ich aber will dem Kaukasos zu! |
26 |
Denn sagen hört' ich |
27 |
Noch heut in den Lüften: |
28 |
Frei sei'n, wie Schwalben, die Dichter. |
29 |
Auch hat mir ohnedies |
30 |
In jüngeren Tagen einer vertraut, |
31 |
Es seien, vor alter Zeit, |
32 |
Die Eltern einst, das scharfe Geschlecht, |
33 |
Still fortgezogen, von Wellen der Donau, |
34 |
Dort mit der Sonne Kindern |
35 |
Am strengsten Tage, staunendes Geistes, da diese |
36 |
Sich Schatten suchten, zusammen |
37 |
Am schwarzen Meere gekommen, |
38 |
Und nicht umsonst sei dies |
39 |
Das gastfreundliche genennet. |
|
|
40 |
Denn als sie erst sich angesehen, |
41 |
Da nahten die Andern zuerst. Dann sazten auch |
42 |
Die Unseren sich neugierig unter |
43 |
Den Ölbaum. Doch, als nun sich ihre Gewande |
44 |
Berührt, und keiner vernehmen konnte |
45 |
Die eigene Rede des andern, wäre fast |
46 |
Entstanden ein Zwist, wenn nicht aus Zweigen herunter |
47 |
Gekommen wäre die Kühlung; |
48 |
Die Lächeln über das Angesicht |
49 |
Der Streitenden öfters breitet. Und eine Weile |
50 |
Sahn still sie auf. Dann reichten sie sich |
51 |
Die Hände liebend einander. Und bald |
|
|
52 |
Vertauschten sie Waffen und all |
53 |
Die lieben Güter des Hauses; |
54 |
Vertauschten das Wort auch. Und es wünschten |
55 |
Die freundlichen Väter umsonst nichts |
56 |
Beim Hochzeitjubel den Kindern. |
57 |
Denn aus den Heiligvermählten |
58 |
Wuchs schöner denn Alles, |
59 |
Was vor und nach |
60 |
Von Menschen sich nannt', ein Geschlecht auf. Wo, |
61 |
Wo aber wohnt ihr, liebe Verwandten, |
62 |
Dass wir das Bündnis wiederbegehn, |
63 |
Und der theuren Ahnen gedenken? |
|
|
64 |
Dort an den Ufern, unter den Bäumen |
65 |
Ionias, in Ebenen des Kaüstros, |
66 |
Wo Kraniche, des Äthers froh, |
67 |
Umschlossen sind von fernhindämmernden Bergen, |
68 |
Dort wart auch ihr, ihr Schönsten! oder pflegtet |
69 |
Der Inseln, die mit Wein bekränzt, |
70 |
Voll tönten von Gesang; noch andere wohnten |
71 |
Am Taüget, am vielgepriesnen Hümettos, |
72 |
Und blühten zulezt. Doch von |
73 |
Parnassos Quell bis zu des Tmolos |
74 |
Goldglänzenden Bächen erklang |
75 |
Ein ewig Lied; so rauschten damals |
76 |
Die heiligen Wälder und all |
77 |
Die Saitenspiele zusamt, |
78 |
Von himmlischer Milde gerühret. |
|
|
79 |
O Land des Homer! |
80 |
Am purpurnen Kirschbaum, oder wenn, |
81 |
Von dir gesandt, im Weinberg mir |
82 |
Die jungen Pfirsiche grünen, |
83 |
Und die Schwalbe fernher kommt und vieles erzählend |
84 |
An meinen Wänden ihr Haus baut, in |
85 |
Den Tagen des Mais, auch unter den Sternen |
86 |
Gedenk ich, o Ionia! dein. Doch Menschen |
87 |
Ist Gegenwärtiges lieb. Drum bin ich |
88 |
Gekommen, euch, ihr Inseln, zu sehn und euch, |
89 |
Ihr Mündungen der Ströme, o ihr Hallen der Thetis, |
90 |
Ihr Wälder, euch, und euch, ihr Wolken des Ida! |
|
|
91 |
Doch nicht zu bleiben gedenk ich, |
92 |
Unbiegsam ist und schwer zu gewinnen |
93 |
Die Verschlossene, der ich entkommen, die Mutter. |
94 |
Von ihren Söhnen einer, der Rhein, |
95 |
Mit Gewalt wollt' er ans Herz ihr stürzen und schwand, |
96 |
Der Zurückgestossene, niemand weiss, wohin in die Ferne. |
97 |
Doch so nicht wünscht' ich gegangen zu sein |
98 |
Von ihr, und nur euch einzuladen |
99 |
Bin ich zu euch, ihr Grazien Griechenlands, |
100 |
Ihr Himmelstöchter! gegangen, |
101 |
Dass wenn die Reise zu fern nicht ist, |
102 |
Zu uns ihr kommet, ihr Holden! |
Details zum Gedicht „Die Wanderung“
8
102
575
1807
Klassik,
Romantik
Gedicht-Analyse
Der Autor des Gedichts ist Johann Christian Friedrich Hölderlin, ein bedeutender deutscher Dichter der Epoche des deutschen Idealismus und der Romantik. Hölderlin lebte von 1770 bis 1843, was das Gedicht zeitlich in das späte 18. oder frühe 19. Jahrhundert einordnet.
Beim ersten Lesen des Gedichts fallen die landschaftlichen und kulturellen Anspielungen auf. Es handelt sich um ein rhapsodisch strukturiertes Gedicht, wie es für die Romantik typisch ist. Das lyrische Ich erzählt von seiner Zugehörigkeit und Liebe zu seiner Heimat, aber auch von seiner Neugier und Sehnsucht, fremde Kulturen kennenzulernen.
Inhaltlich startet das Gedicht mit einer Beschreibung der Heimatlandschaft des lyrischen Ichs. Es benennt konkret Regionen wie Suabia (Südwestdeutschland), Lombardia (Norditalien) und die Schweizer Alpen. Dieser Ort ist geprägt von Flüssen, Wäldern und Bergen und steht für Behaglichkeit.
In der zweiten Strophe erläutert das lyrische Ich seinen Wunsch, die Heimat zu verlassen und den Kaukasus zu besuchen. Dieser Wunsch stellt eine vielleicht utopische Vorstellung von Freiheit dar. Darüber hinaus besteht das Bedürfnis, seine Vorfahren zu treffen und eine Verbindung zur Vergangenheit herzustellen.
Formal besteht das Gedicht aus acht Strophen mit jeweils unterschiedlicher Anzahl von Versen. Hölderlin verwendet eine reiche und detailgenaue Sprache, die komplexe Metaphorik und Symbolik enthält. Die Worte sind sorgfältig gewählt und viele Verse haben einen rhythmischen, fast musikalischen Klang.
In der Bildsprache des Gedichts finden sich zudem viele antike Elemente und Bezüge zur griechischen Mythologie. So sind die „Himmelstöchter“ und „Grazien Griechenlands“ Anspielungen auf die griechischen Musen, Göttinnen der Künste und Wissenschaften. Diese antiken Referenzen stellen die Idealisierung des antiken Griechenlands und eine Romantisierung der Vergangenheit dar, die beide charakteristisch für Hölderlins Werk sind.
Insgesamt ist „Die Wanderung“ ein sehr persönliches und emotionales Gedicht, das eine tiefe Sehnsucht nach Freiheit, Abenteuer und kultureller Verbindung ausdrückt. Es zeigt sowohl Hölderlins Anerkennung der Schönheit und Bedeutung seiner Heimat, als auch sein Verlangen, über die geographischen und kulturellen Grenzen hinaus zu gehen und neue Erfahrungen zu sammeln.
Weitere Informationen
Das Gedicht „Die Wanderung“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Johann Christian Friedrich Hölderlin. Im Jahr 1770 wurde Hölderlin in Lauffen am Neckar geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1807 zurück. Erscheinungsort des Textes ist Regensburg. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Klassik oder Romantik kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Vor Verwendung der Angaben zur Epoche prüfe bitte die Richtigkeit. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen und daher anfällig für Fehler. Das vorliegende Gedicht umfasst 575 Wörter. Es baut sich aus 8 Strophen auf und besteht aus 102 Versen. Weitere Werke des Dichters Johann Christian Friedrich Hölderlin sind „Das Unverzeihliche“, „Dem Genius der Kühnheit“ und „Der Gott der Jugend“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Die Wanderung“ weitere 181 Gedichte vor.
+ Mehr Informationen zum Autor / Gedicht einblenden.

+ Wie analysiere ich ein Gedicht?

Fertige Biographien und Interpretationen, Analysen oder Zusammenfassungen zu Werken des Autors Johann Christian Friedrich Hölderlin
Wir haben in unserem Hausaufgaben- und Referate-Archiv weitere Informationen zu Johann Christian Friedrich Hölderlin und seinem Gedicht „Die Wanderung“ zusammengestellt. Diese Dokumente könnten Dich interessieren.
- Weimarer Klassik (1794 - 1805) - die gemeinsame Schaffensperiode von Goethe und Schiller
- Vergleich der Gedichte: Die Stadt (Storm) und Rings um ruhet die Stadt (Hölderlin)
Weitere Gedichte des Autors Johann Christian Friedrich Hölderlin (Infos zum Autor)
- Abbitte
- Abendphantasie
- An Ihren Genius
- An die Deutschen
- An die Parzen
- An die jungen Dichter
- An unsre Dichter
- Das Schicksal
- Das Unverzeihliche
- Dem Genius der Kühnheit
Zum Autor Johann Christian Friedrich Hölderlin sind auf abi-pur.de 181 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.
Freie Ausbildungsplätze in Deiner Region
besuche unsere Stellenbörse und finde mit uns Deinen Ausbildungsplatz
erfahre mehr und bewirb Dich direkt