Die Waisenkinder von Joachim Ringelnatz

Zwanzig grobe Strohhüte gehen
Zwei und zwei wie Militär.
Zwanzig schwarze Pelerinchen wehen,
Als wenn’s zum Begräbnis wär.
 
Magre Lehrerin voraus,
Hinten magre zweite,
Eine dritte an der Seite,
Also zieht aus engem Haus
Eine Schlange in die Weite.
 
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Hilfe! Mitleid! Und Beschwerde!
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Zwanzig arme Waisenkinder,
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Streng getrieben, eine Herde
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Junger Rinder –.
 
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Weil mich meine Mutter knufft,
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Und um Stärkres zu vermeiden,
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Sag ich: „Ja, man läßt sie weiden
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In der frischen, freien Luft.“
 
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„Weiden? – Dummheit! Siehst du nicht,
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Was hier vorgeht, roher Bengel!
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Junge Blumen brauchen Licht,
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Wärme, Erde, Wurzel, Stengel –.“
 
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„Manche brauchen Mist, Mama,
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Weil sie anderes vermissen,
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Und der ist – wer kann es wissen –
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Hier vielleicht sehr reichlich da.“
 
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Meine Mutter ruckt, – schluckt:
 
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„Treibt mit diesen Engeln Spott!
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Und mich will er nicht verstehen.
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Warte, dir wird’s schlimm ergehen!
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Und das wünsch ich dir. Bei Gott.“
 
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Meine Mutter dreht
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Rücken zu und geht.
 
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Und nun sauf ich wo, wo keine
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Rinder, Blumen, Engel sind,
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Bin für mich oder für meine
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Mutter Naseweisenkind.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.4 KB)

Details zum Gedicht „Die Waisenkinder“

Anzahl Strophen
10
Anzahl Verse
36
Anzahl Wörter
167
Entstehungsjahr
1928
Epoche
Moderne,
Expressionismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Die Waisenkinder“ wurde von Joachim Ringelnatz verfasst, der von 1883 bis 1934 lebte. Eine mögliche zeitliche Einordnung des Gedichts könnte also in die ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts fallen.

Schon auf den ersten Blick ist zu erkennen, dass das Gedicht die tragische Situation von Waisenkindern beleuchtet. Die Worte von Ringelnatz erzeugen dabei eine düstere und emotional belastende Stimmung.

Inhaltlich bezieht sich das lyrische Ich auf eine Gruppe von Waisenkindern, deren Bild deutlich mit dem einer militärischen Truppe verglichen wird. Die Kinder marschieren unter der strengen Führung ihrer Lehrerinnen und sind, wie das lyrische Ich pointiert, eher einer Herde junger Rinder gleich. Der kontroverse Dialog zwischen dem lyrischen Ich und seiner Mutter offenbart eine tiefe Spaltung in der Wahrnehmung der Waisenkinder. Während die Mutter auf das Leid der Kinder hinweist und einfühlsam ihre bedürftige Lage hervorhebt, zieht das lyrische Ich spöttisch Parallelen zwischen der rauen Behandlung der Kinder und der Düngung von Blumen.

Die Form des Gedichts unterstreicht den harten, aufreibenden Alltag der Waisenkinder. Die einzelnen Strophen und Verse wirken durch ihren strengen Rhythmus und die klare Strukturierung disziplinarisch und entbehren jedweder Freiheit. Ringelnatz verwendet eine einfach strukturierte, leicht verständliche Sprache. Doch gerade diese Einfachheit und Direktheit der Ausdrücke erzeugt eine hohe emotionale Wirkung und lädt ein, sich intensiver mit den Auswirkungen von Armut und Einsamkeit auf Kinder auseinanderzusetzen.

In der letzten Strophe scheint das lyrische Ich zu einer resignierenden Selbsterkenntnis und gleichzeig auch zu einer Selbstironie zu gelangen. Es betrinkt sich, dabei unterstreicht es die Abwesenheit von 'Rindern, Blumen und Engeln' - alle Metapher, die in den vorherigen Strophen benutzt wurden. Dabei bezeichnet es sich selbst als 'Naseweisenkind', ein Kind, das allzu vorlaut und frech seine eigene Meinung äußert. Und damit auch eine Art Außenseiter, der nicht ins konforme Bild passt. Hier könnte auch ein Stück weit die soziale Kritik von Ringelnatz angesprochen sein.

Weitere Informationen

Joachim Ringelnatz ist der Autor des Gedichtes „Die Waisenkinder“. Der Autor Joachim Ringelnatz wurde 1883 in Wurzen geboren. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1928. Erschienen ist der Text in Berlin. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text den Epochen Moderne oder Expressionismus zugeordnet werden. Bei Ringelnatz handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen. Das Gedicht besteht aus 36 Versen mit insgesamt 10 Strophen und umfasst dabei 167 Worte. Weitere bekannte Gedichte des Autors Joachim Ringelnatz sind „Abglanz“, „Abschied von Renée“ und „Abschiedsworte an Pellka“. Zum Autor des Gedichtes „Die Waisenkinder“ haben wir auf abi-pur.de weitere 560 Gedichte veröffentlicht.

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