Die Todten an die Lebenden von Ferdinand Freiligrath

Die Kugel mitten in der Brust, die Stirne breit gespalten,
So habt ihr uns auf blut’gem Brett hoch in die Luft gehalten!
Hoch in die Luft mit wildem Schrei, daß unsre Schmerzgeberde
Dem, der zu tödten uns befahl, ein Fluch auf ewig werde!
Daß er sie sehe Tag und Nacht, im Wachen und im Traume –
Im Oeffnen seines Bibelbuchs wie im Champagnerschaume!
Daß wie ein Brandmal sie sich tief in seine Seele brenne:
Daß nirgendwo und nimmermehr er vor ihr fliehen könne!
Daß jeder qualverzogne Mund, daß jede rothe Wunde
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Ihn schrecke noch, ihn ängste noch in seiner letzten Stunde!
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Daß jedes Schluchzen um uns her dem Sterbenden noch schalle,
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Daß jede todte Faust sich noch nach seinem Haupte balle –
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Mög’ er das Haupt nun auf ein Bett, wie andre Leute pflegen,
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Mög’ er es auf ein Blutgerüst zum letzten Athmen legen!
 
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So war’s! Die Kugel in der Brust, die Stirne breit gespalten,
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So habt ihr uns auf schwankem Brett auf zum Altan gehalten!
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„Herunter!“ – und er kam gewankt – gewankt an unser Bette;
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„Hut ab!“ – er zog – er neigte sich! (so sank zur Marionette,
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Der erst ein Komödiante war!) – bleich stand er und beklommen!
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Das Heer indeß verließ die Stadt, die sterbend wir genommen,
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Dann „Jesus meine Zuversicht!“, wie ihr’s im Buch könnt lesen:
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Ein „Eisen meine Zuversicht!“ wär’ paßlicher gewesen!
 
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Das war den Morgen auf die Nacht, in der man uns erschlagen;
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So habt ihr triumphirend uns in unsre Gruft getragen!
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Und wir – wohl war der Schädel uns zerschossen und zerhauen,
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Doch lag des Sieges froher Stolz auf unsern grimmen Brauen.
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Wir dachten: hoch zwar ist der Preis, doch ächt auch ist die Waare!
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Und legten uns in Frieden drum zurecht auf unsrer Bahre.
 
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Weh’ euch, wir haben uns getäuscht! Vier Monden erst vergangen,
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Und Alles feig durch euch verscherzt, was trotzig wir errangen!
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Was unser Tod euch zugewandt, verlottert und verloren –
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O, Alles, Alles hörten wir mit leisen Geisterohren!
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Wie Wellen braust’ an uns heran, was sich begab im Lande:
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Der Aberwitz des Dänenkriegs, die letzte Polenschande;
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Das rüde Toben der Vendée in stockigen Provinzen;
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Der Soldateska Wiederkehr, die Wiederkehr des Prinzen;
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Die Schmach zu Mainz, die Schmach zu Trier; das Hänseln, das Entwaffnen
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Allüberall der Bürgerwehr, der eben erst geschaffnen;
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Die Tücke, die den Zeughaussturm zu einem Diebszug machte,
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Die selber uns, die selbst das Grab noch zu begeifern dachte;
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So weit es Barrikaden gab, der Druck auf Schrift und Rede;
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Mit der Versammlung freiem Recht die täglich frechre Fehde;
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Der Kerkerthore dumpf Geknarr im Norden und im Süden;
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Für Jeden, der zum Volke steht, das alte Kettenschmieden;
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Der Bund mit dem Kosackenthum; das Brechen jedes Stabes,
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Ach, über euch, die werth ihr seid des lorbeerreichsten Grabes:
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Ihr von des Zukunftdranges Sturm am weitesten Getragnen!
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Ihr – Juni-Kämpfer von Paris! Ihr siegenden Geschlagnen!
 
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Dann der Verrath, hier und am Main im Taglohn unterhalten –
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O Volk, und immer Friede nur in deines Schurzfells Falten?
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Sag’ an, birgt es nicht auch den Krieg? den Krieg herausgeschüttelt!
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Den zweiten Krieg, den letzten Krieg mit Allem, was dich büttelt!
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Laß deinen Ruf: „die Republik!“ die Glocken überdröhnen,
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Die diesem allerneuesten Johannesschwindel tönen!
 
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Umsonst! es thäte Noth, daß ihr uns aus der Erde grübet,
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Uns wiederum auf blut’gem Brett hoch in die Luft erhübet!
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Nicht, jenem abgethanen Mann, wie damals, uns zu zeigen –
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Nein, zu den Zelten, auf den Markt, in’s Land mit uns zu steigen!
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Hinaus in’s Land, soweit es reicht! Und dann die Insurgenten
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Auf ihren Bahren hingestellt in beiden Parlamenten!
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O ernste Schau! Da lägen wir, im Haupthaar Erd’ und Gräser,
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Das Antlitz fleckig, halbverwest – die rechten Reichsverweser!
 
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Da lägen wir und sagten aus: Eh’ wir verfaulen konnten,
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Ist eure Freiheit schon verfault, ihr trefflichen Archonten!
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Schon fiel das Korn, das keimend stand, als wir im Märze starben:
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Der Freiheit Märzsaat ward gemäht noch vor den andern Garben!
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Ein Mohn im Felde hier und dort entging der Sense Hieben –
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O, wär’ der Grimm, der rothe Grimm im Lande so geblieben!
 
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Und doch, er blieb! Es ist ein Trost im Schelten uns gekommen:
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Zu viel schon hattet ihr erreicht, zu viel ward euch genommen!
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Zu viel des Hohns, zu viel der Schmach wird täglich euch geboten:
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Euch muß der Grimm geblieben sein – o, glaubt es uns, den Todten!
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Er blieb euch! ja, und er erwacht! er wird und muß erwachen!
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Die halbe Revolution zur ganzen wird er machen!
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Er wartet nur des Augenblicks, dann springt er auf allmächtig;
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Gehobnen Armes, weh’nden Haars dasteht er wild und prächtig!
 
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Die rost’ge Büchse legt er an, mit Fensterblei geladen;
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Die rothe Fahne läßt er wehn hoch auf den Barrikaden!
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Sie fliegt voran der Bürgerwehr, sie fliegt voran dem Heere –
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Die Throne gehn in Flammen auf, die Fürsten fliehn zum Meere!
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Die Adler fliehn, die Löwen fliehn; die Klauen und die Zähne! –
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Und seine Zukunft bildet selbst das Volk, das souveräne!
 
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Indessen, bis die Stunde schlägt, hat dieses unser Grollen
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Euch, die ihr vieles schon versäumt, das Herz ergreifen wollen!
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O, steht gerüstet, seid bereit! o, schaffet, daß die Erde,
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Darin wir liegen strack und starr, ganz eine freie werde!
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Daß fürder der Gedanke nicht uns stören kann im Schlafen:
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Sie waren frei: doch wieder jetzt – und ewig! – sind sie Sklaven!
 
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Düsseldorf, Juli 1848.

Details zum Gedicht „Die Todten an die Lebenden“

Anzahl Strophen
11
Anzahl Verse
89
Anzahl Wörter
876
Entstehungsjahr
1848
Epoche
Junges Deutschland & Vormärz

Gedicht-Analyse

Das präsentierte Gedicht stammt von Ferdinand Freiligrath, einem bedeutenden Vertreter der politischen Lyrik im 19. Jahrhundert. Der Zeitstempel am Ende des Gedichts – „Düsseldorf, Juli 1848“ – weist auf die politisch bewegte Zeit der europäischen Revolutionen hin, insbesondere auf die Deutsche Revolution 1848/1849, in der das Bürgertum Freiheits- und politische Grundrechte einforderte.

Beim ersten Lesen fällt die starke Ausdruckskraft und Intensität des Gedichts auf. Es ist geprägt von politischer Unzufriedenheit, Wut und Beschuldigungen an die Lebenden. Der Inhalt dreht sich um die Kritik an den politischen Verhältnissen, insbesondere an der unterdrückenden Herrschaft und dem Verrat an der Freiheit.

In einfacher Sprache ausgedrückt, spricht das lyrische Ich aus der Perspektive der Toten zu den Lebenden. Es beschwert sich darüber, dass das, wofür sie gekämpft und gestorben sind - die Freiheit und Gerechtigkeit - wieder verloren gegangen sind und von den Lebenden verspielt wurden. Es appelliert an die Lebenden, weiterhin für Freiheit und Gerechtigkeit zu kämpfen und sich gegen die Tyrannei aufzulehnen.

In Bezug auf die Form des Gedichts ist es in freie Verse verfasst und hat keine regelmäßige Strophen- oder Versstruktur. Die meisten Strophen, außer der letzten, haben mehr als vier Verse und das gesamte Gedicht besteht aus 89 Versen. Dies, zusammen mit der dramatischen und expressiven Sprache, verleiht dem Gedicht eine sehr starke und emphatische Qualität.

Die Sprache des Gedichts ist stark, leidenschaftlich und kritisch. Es nutzt starke Bilder und Metaphern, um Wut und Empörung auszudrücken. Es gibt viele Anspielungen auf historische Ereignisse und Personen aus dieser Zeit, was das Gedicht auch zu einem wichtigen historischen Dokument macht.

Insgesamt ist „Die Todten an die Lebenden“ ein Gedicht von großer historischer Bedeutung und ein herausragendes Beispiel für politische Lyrik. Es ist gleichzeitig eine scharfe Kritik an der politischen Situation der damaligen Zeit und ein Aufruf an die Lebenden, für Freiheit und Gerechtigkeit zu kämpfen und nicht das aufzugeben, wofür viele Menschen ihr Leben gelassen haben. Es ist ein Gedicht voller Leidenschaft, Wut und Entschlossenheit, und es ist ein Zeugnis für die große Kraft und Ausdrucksfähigkeit der Lyrik.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Die Todten an die Lebenden“ ist Ferdinand Freiligrath. Im Jahr 1810 wurde Freiligrath in Detmold geboren. Das Gedicht ist im Jahr 1848 entstanden. Der Erscheinungsort ist Köln. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text der Epoche Junges Deutschland & Vormärz zugeordnet werden. Bei dem Schriftsteller Freiligrath handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 876 Wörter. Es baut sich aus 11 Strophen auf und besteht aus 89 Versen. Weitere Werke des Dichters Ferdinand Freiligrath sind „Am Birkenbaum.“, „Eispalast“ und „Freie Presse“. Zum Autor des Gedichtes „Die Todten an die Lebenden“ haben wir auf abi-pur.de weitere 65 Gedichte veröffentlicht.

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