Die Spinne von Johann Peter Hebel

Nei lueget doch das Spinnli a,
wie’s zarti Fäde zwirne cha!
Bas Gvatter meinsch, chasch’s au ne so?
De wirsch mers, traui, blibe lo.
Es machts so subtil und so nett,
i wott nit, aßi ’s z’hasple hätt.
 
Wo het’s die fini Riste g’no,
by wellem Meister hechle lo?
Meinsch, wemme ‘s wüßt, e mengi Frau,
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sie wär so gscheit, und holti au!
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Jez lueg mer, wie ’s si Füeßli sezt,
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und spinne will, und d’ Finger nezt.
 
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Es zieht e lange Faden us,
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es spinnt e Bruck ans Nochbers Hus,
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es baut e Land-Stroß in der Luft,
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morn hangt sie scho voll Morgeduft,
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es baut e Fußweg nebe dra,
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’s isch, aß es ehne dure cha.
 
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Es spinnt und wandlet uf und ab,
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Potz tausig, im Gallop und Trap! –
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Jez gohts ring um, was hesch, was gisch!
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Siehsch, wie ne Ringli worden isch!
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Jez schießt’s es zarte Fäden i.
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Wirds öbbe solle gwobe sy?
 
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Es isch verstuunt, es haltet still,
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es weiß nit recht, wo ’s ane will.
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’s goht weger z’ruck, i sieh’s em a;
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’s muß näumis rechts vergesse ha.
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„Zwor, denkt es, sel pressiert io nit,
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i halt mi nummen uf dermit.“
 
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Es spinnt und webt, und het kei Rast,
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so glüchlig, me verluegt si fast
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Und ’s Pfarers Christoph het no gseit,
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’s seig iede Fade zseme gleit.
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Es mueß ein guti Auge ha,
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wers zehlen und erchenne cha.
 
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Jez puzt es sine Händli ab,
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es stoht, und haut der Faden ab.
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Jez sizt es in si Summer‑Hus,
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und luegt die lange Stroßen us.
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Es seit: „Me baut si halber z’tod,
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doch freuts ein au, wenns Hüsli stoht.“
 
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In freie Lüfte wogt und schwankts,
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und an der liebe Sunne hangts;
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sie schint em frey dur d’Beinli dur,
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und ’s isch em wohl. In Feld und Flur
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sieht ‘s Mückli tanze, iung und feiß;
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‘s denkt by nem selber: „Hätti eis!“
 
49 
O Thierli, wie hesch mi vertzückt!
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Wie bisch so chlei, und doch so gschickt!
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Wer het di au die Sache glehrt?
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Denkwol der, wonis alli nährt,
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mit milde Händen alle git.
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Biß zfrieden! Er vergißt di nit.
 
55 
Do chunnt e Fliege, nei wie dumm!
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Sie rennt em schier gar ’s Hüsli um.
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Sie schreit und winslet Weh und Ach!
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Du arme Chetzer hesch di Sach!
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Hesch keini Auge by der g’ha?
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Was göhn di üsi Sachen a?
 
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Lueg, ’s Spinnli merkts enanderno,
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es zuckt und springt und het sie scho.
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Es denkt: „I ha viel Arbet g’ha,
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iez mußi au ne Brotis ha!“
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I sags io, der wo alle git,
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wenns Zit isch, er vergißt di nit.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (28.4 KB)

Details zum Gedicht „Die Spinne“

Anzahl Strophen
11
Anzahl Verse
66
Anzahl Wörter
445
Entstehungsjahr
1803
Epoche
Klassik,
Romantik

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Die Spinne“ ist von Johann Peter Hebel, einem deutschen Dichter, der von 1760 bis 1826 lebte. In diesem lyrischen Text beobachtet das lyrische Ich voller Faszination und Bewunderung eine Spinne, die behände und akribisch ihr Netz spinnt.

Auf den ersten Eindruck wirkt das Gedicht wie eine liebevolle Beschreibung der Natur und ihrer Bewohner, voller Achtung vor dem scheinbar simplen, jedoch technisch komplexen Prozess des Netzwebens. Dabei wird das lyrische Ich zum Beobachter, der das Wirken der Spinne genauestens verfolgt und beschreibt.

Inhaltlich beschreibt das Gedicht das sorgsame und geschickte Arbeiten einer Spinne. Diese, in all ihrer Einfachheit und doch Komplexität, erschafft mit Geschick und Ausdauer ein Netz, immer abwägend und kalkulierend, wo der nächste Faden gezogen werden muss, dabei stets auf der Hut vor möglichen Beute. Am Ende wird ihr Bemühen belohnt, als eine unachtsame Fliege in ihr Netz fliegt, das zuvor noch von den anderen Insekten ignoriert wurde. In diesem Prozess scheint das lyrische Ich die Spinne zu personifizieren und ihre Handlungen mit menschlichen Attributen zu beschreiben. Das lyrische Ich scheint die Lehre zu vermitteln, dass Arbeit und Geduld am Ende belohnt werden, in der Natur wie im menschlichen Leben.

Formal besteht das Gedicht aus elf Strophen zu je sechs Versen. Es folgt kein regelmäßiges Reimschema, und der genaue metrische Aufbau variiert, was zu einem eher prosaischen Ton führt.

Die Sprache hebt die Eindrücke des lyrischen Ichs hervor und ist dem alemannischen Dialekt nachempfunden, was auf die Herkunft des Autors hinweist und den Text volksliedartig wirken lässt. Durch die angedeutete Dialektik wird auch eine bestimmte räumliche Positionierung des lyrischen Ichs suggeriert. Die verwendete Wortwahl, die zum Teil personifizierend auf die Spinne eingeht, verstärkt das Bild einer detailreichen, sorgfältigen Beobachtung und Wertschätzung der scheinbar unscheinbaren, natürlichen Vorgänge.

Das Gedicht, obwohl äußerlich einfach und unspektakulär, verbirgt tiefe Bedeutungen und Moralvorstellungen, und wirft Fragen nach menschlichem Handeln, Naturwahrnehmung und die Bedeutung von Arbeit auf. Es feiert die Schönheit und Komplexität der Natur, zeigt Anerkennung für ihre Bewohner und lenkt den Blick des Lesers auf die scheinbar unauffälligen, aber dennoch bedeutsamen Prozesse des Lebens.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Die Spinne“ ist Johann Peter Hebel. Hebel wurde im Jahr 1760 in Basel geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1803 zurück. Erscheinungsort des Textes ist Karlsruhe. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht den Epochen Klassik oder Romantik zuordnen. Vor Verwendung der Angaben zur Epoche prüfe bitte die Richtigkeit. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen und daher anfällig für Fehler. Das Gedicht besteht aus 66 Versen mit insgesamt 11 Strophen und umfasst dabei 445 Worte. Weitere bekannte Gedichte des Autors Johann Peter Hebel sind „Das Hexlein“, „Das Liedlein vom Kirschbaum“ und „Der Bettler“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Die Spinne“ weitere 60 Gedichte vor.

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