Lina und der Geist von Sophie Friederike Mereau

Am dunkeln Buchhaine,
Der Einsamkeiten Schoß,
Saß ich beim Abendscheine
Auf einer Bank von Moos.
 
Der Genius der Lüfte,
Bewegt der Locken Blau,
Und schüttelt süße Düfte,
Auf die entschlaf'ne Au.
 
Der Mond vom Bergesgipfel,
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Besäumt am Buchenhain
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Die unbestimmten Wipfel
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Mit perlengrauem Schein.
 
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Es herrschte tiefes Schweigen
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Im Tale und am Bach;
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Rings war in grünen Zweigen
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Kein Zephir nicht mehr wach.
 
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Und alle Vögel schliefen;
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Im Wald nur tönt es weit,
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Als seufzt' in seinen Tiefen,
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Der Geist der Einsamkeit.
 
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Ich wiegte mich in Träumen;
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Es neigte sich mein Sinn
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Zu wunderbaren Räumen
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Des Geisterlebens hin.
 
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Da rauscht es in dem Haine,
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Und eine Luftgestalt
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Kam blaß im Mondenscheine
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Zu mir heran gewallt.
 
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Wie dünner Nebelschleier
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Umfloß sie das Gewand,
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Sie winkt mit stiller Feier
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Mir traurig mit der Hand.
 
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Ich folg' ihr ohne Grauen,
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Bedachte mich nicht lang,
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Mir selbst konnt' ich vertrauen,
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Und so war mir nicht bang.
 
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Sie führte durch's Gedränge
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Von Büschen, das ihr wich,
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Durch lange, dunkle Gänge,
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In eine Halle mich.
 
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Hier strecket sich ein Hügel
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Sanft an den Boden hin;
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Rings weh'n mit dunklem Flügel,
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Zypressen über ihn.
 
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Und wie wir da verweilen,
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Naht sich die zwölfte Stund':
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Da schien der Geist zu eilen,
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Und sprach mit blassem Mund':
 
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»Dir neig' ich an dem Rande
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Des Grabes dankbar mich!
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Du lösest meine Bande,
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Und ich bin frei durch dich.
 
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Der Erde dunkle Auen
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Durchirrte ruhlos ich;
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Oft sah mit stillem Grauen
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Der bange Wandrer mich.
 
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Mein Irren wär' zu Ende,
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So wollt' es das Geschick
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Wenn ich ein Wesen fände,
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Voll Mut zu meinem Glück,
 
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Das nicht im Herzen zagte,
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Stets auf sich selbst vertraut;
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Dem, wenn ich Bitten wagte,
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Nicht für dem Geist gegraut.
 
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Mit bittender Gebärde
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Winkt' ich so manchen schon,
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Daß mir Erlösung werde.
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Doch alle floh'n davon!
 
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Nur du mit heiterm Herzen,
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Voll Mut zu meinem Glück,
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Du endest meine Schmerzen,
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Und frei kehr' ich zurück.«
 
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Er hörte auf zu sprechen,
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Doch schnell rief ich ihm zu:
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»Sag' mir, für welch' Verbrechen
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Entbehrtest du der Ruh'?«
 
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»Gern still' ich dein Begehren«,
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Sprach der zufried'ne Geist,
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»Bis mich zurücke kehren,
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Die Geisterstunde heißt.
 
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Es hüllte mich im Leben
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Die reizendste Gestalt.
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Von Lieb' und Glück umgeben,
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Blieb ich im Herzen kalt.
 
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Die Schönste unter allen
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Ward in mir anerkannt;
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Es war, mir zu gefallen,
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Jed' Männerherz entbrannt.
 
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Das sah ich mit Vergnügen.
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In Selbstsucht eingehüllt,
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hätt' ich mit meinen Siegen
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Gern eine Welt erfüllt.
 
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Ich betete im Herzen
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Mein eignes Bild nur an;
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Mir waren fremde Schmerzen
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Und fremde Freude Wahn.
 
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So füllt' ich nur mit Leiden
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Der andern Lebenslauf,
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Und opferte mit Freuden
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Sie meinen Launen auf.
 
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Mein Unrecht abzubüßen,
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Ward mir im Schattenland,
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Von strengen Richterschlüssen,
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Die Strafe zuerkannt:
 
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Zu schweifen ohne Ende,
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Durch Nacht und Einsamkeit,
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Bis ich ein Wesen fände,
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Gefühlvoll fremden Leid.
 
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Die Weiber, die im Leben,
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Wie ich gesündigt, schwer,
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Sind gleich gestraft; sie schweben
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Als weiße Frau'n umher.«
 
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Drauf sagt' ich: »o! verweile
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Noch einen Augenblick,
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Und sage mir in Eile,
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Wie straft denn das Geschick
 
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An Männern die Vergehen,
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Die, eitler Selbstsucht voll,
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Wir oft begehen sehen?«
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Da sprach der Geist mit Groll:
 
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»Die Richter in den Reichen
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Der blassen Schatten sind
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für and're ohn' Erweichen,
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Doch eignen Fehlern blind,
 
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Und wie auf Erden, fehlet
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Ein Vorwand ihnen nicht,
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Der leicht ihr Unrecht hehlet,
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Der Menge Sinn besticht.
 
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Denn, - sagen sie den Frauen
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In Edens Götterschein,
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Sprecht selber, in Vertrauen,
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Was hilft's euch, selig sein?
 
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Geh'n wir, wenn Männer fehlen,
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So strenge in's Gericht,
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Dann sieht von Männerseelen
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Nicht eine Edens Licht!«
 
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»Wie?« rief ich traurig, »Keine?
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Dann wäre Liebe Tand!
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Wohl mir, ich kenn' die eine!«
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Da faßt mich eine Hand,
 
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Und von der Dorfuhr tönet
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Der Geisterstunde Schlag;
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Der Geist entflieht und stöhnet;
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Ich fühl' mich plötzlich wach.
 
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Es strahlt in hoher Ferne
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Des blauen Himmels Raum,
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Ich seh' die hellen Sterne,
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Und es entweicht der Traum;
 
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Und meinen Arm umschließend,
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Fühl' ich des Freundes Hand,
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Der sorglich mich vermissend,
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Nun schlafend hier mich fand.
 
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Zu prüfen sein Gewissen,
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Erzähl' ich mein Gesicht;
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Doch er sagt unter Küssen:
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»Die Liebe zweifelt nicht!«

Details zum Gedicht „Lina und der Geist“

Anzahl Strophen
39
Anzahl Verse
156
Anzahl Wörter
685
Entstehungsjahr
1770 - 1806
Epoche
Aufklärung,
Empfindsamkeit,
Sturm & Drang

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Lina und der Geist“ stammt aus der Feder der Autorin bzw. Lyrikerin Sophie Friederike Mereau. 1770 wurde Mereau in Altenburg geboren. Im Zeitraum zwischen 1786 und 1806 ist das Gedicht entstanden. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten der Autorin lassen eine Zuordnung zu den Epochen Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm & Drang, Klassik oder Romantik zu. Die Angaben zur Epoche prüfe bitte vor Verwendung auf Richtigkeit. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Da sich die Literaturepochen zeitlich teilweise überschneiden, ist eine reine zeitliche Zuordnung fehleranfällig. Das vorliegende Gedicht umfasst 685 Wörter. Es baut sich aus 39 Strophen auf und besteht aus 156 Versen. Sophie Friederike Mereau ist auch die Autorin für das Gedicht „Das Bildniß“, „Das Lieblingsörtchen“ und „Die Zukunft“. Zur Autorin des Gedichtes „Lina und der Geist“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 31 Gedichte vor.

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