Die Schweigende von Kurt Tucholsky

Erst haben wir davon gesprochen
– du hörtest freundlich zu –,
ob unsre alten Männerknochen
sich jemals in den Hörselberg verkrochen …
Und du?
 
Er sagte: „Ach, ich bin ein böses Luder!
Die Frauen fehlen mir.
Ich fresse jedes Jahr ein halbes Fuder,
wild tobt mein Herz, stäubt nur ihr weißer Puder …“
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Was klopft denn dir?
 
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Er sagte: „Rausch! Nur Rausch vor allen Dingen!
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Vor dem Verstand verblich
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schon manche Göttin mit den Strahlenschwingen –
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Mich packt es jäh, wenn meine Sinne singen …“
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Und dich?
 
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Ich sagte: „Rausch ist eine schöne Sache,
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deckt er uns zu.
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Doch geben Sie mir auch die eine wache
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Sekunde nur, in der ich rauschlos lache …“
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Und du?
 
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Du sprichst kein Wort. Du siehst nur so auf jeden
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von uns – und während alles weit verklingt,
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und während wir voll Männerweisheit reden:
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blitzt auf in einem dunkeln Garten Eden
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dein sieghafter Instinkt.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (25.6 KB)

Details zum Gedicht „Die Schweigende“

Anzahl Strophen
5
Anzahl Verse
25
Anzahl Wörter
142
Entstehungsjahr
1919
Epoche
Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit,
Exilliteratur

Gedicht-Analyse

Der Autor des Gedichts ist Kurt Tucholsky, ein deutscher Journalist und Schriftsteller, der von 1890 bis 1935 lebte. Dies ermöglicht eine zeitliche Einordnung in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, eine Zeit, die von den Folgen des Ersten Weltkriegs, der Weimarer Republik und der aufkommenden Diktatur unter den Nationalsozialisten geprägt war.

Auf den ersten Blick kann man beobachten, dass das Gedicht dialogisch gestaltet ist. Das lyrische Ich interagiert mit verschiedenen Gesprächspartnern, unter anderem einer schweigenden Person, die im Titel genannt wird.

Inhaltlich dreht sich das Gedicht um die Gespräche des lyrischen Ichs mit mehreren Männern und eine schweigende Frau. Die Männer äußern ihre Lebensanschauungen und persönlichen Vorlieben, während die Frau schweigt. Dies schafft einen Gegensatz zwischen einer männlich geprägten Diskurskultur, in der gesprochen und argumentiert wird, und einem weiblich konnotierten Instinkt, der sich nicht in Worte fassen lässt und in einer Bildwelt verortet ist.

Das lyrische Ich möchte den „sieghaften Instinkt“ der schweigenden Frau hervorheben. Es zeigt eine Art Bewunderung für die stille Weisheit und die Intuition der schweigenden Frau, die trotz oder gerade wegen ihrer Abwesenheit von verbaler Kommunikation etwas wesentliches auszusagen scheint.

Formal besteht das Gedicht aus fünf Strophen mit jeweils fünf Versen. Die Sprache wirkt sowohl alltagsnah als auch bildhaft und poetisch. Besonders auffällig sind die zahlreichen Ellipsen („Und du?“), die eine Antwort auf die vorangegangenen Aussagen erwarten, diese aber nie erhalten. Diese Form der sprachlichen Verknappung kann als Stilmittel interpretiert werden, das die Spannung erhöht und einen offenen Dialograum schafft, in den die Lesenden ihre eigenen Assoziationen einbringen können.

Insgesamt handelt es sich um ein anspruchsvolles Gedicht, das sowohl eine gesellschaftliche als auch eine individuelle Ebene hat. Es thematisiert die Diskrepanz zwischen den Geschlechterrollen und regt zum Nachdenken über die Möglichkeiten und Grenzen von sprachlicher Kommunikation an. Es hinterlässt den Eindruck, dass der „sieghafte Instinkt“ der Schweigenden einen tieferen Sinn und eine größere Wahrheit besitzt als die lautstarken Monologe der Männer.

Weitere Informationen

Kurt Tucholsky ist der Autor des Gedichtes „Die Schweigende“. Tucholsky wurde im Jahr 1890 in Berlin geboren. 1919 ist das Gedicht entstanden. In Charlottenburg ist der Text erschienen. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zu den Epochen Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit oder Exilliteratur zu. Bei dem Schriftsteller Tucholsky handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Inhaltlich wurden in der Literatur der Weimarer Republik häufig die Ereignisse des Ersten Weltkriegs verarbeitet. Die geschichtlichen Einflüsse des Ersten Weltkrieges und der späteren Weimarer Republik sind die prägenden Faktoren dieser Epoche. Neue Sachlichkeit ist eine Richtung der Literatur der Weimarer Republik. In den ihr zugerechneten Werken ist die zwischen den Weltkriegen hervortretende Tendenz zu illusionslos-nüchterner Darstellung von Gesellschaft, Erotik, Technik und Weltwirtschaftskrise deutlich erkennbar. Dies kann man als Reaktion auf den literarischen Expressionismus werten. Die Dichter orientierten sich an der Realität. Die Handlung wurde meist nur kühl und distanziert beobachtet. Man schrieb ein Minimum an Sprache, dafür hatte diese ein Maximum an Bedeutung. Es sollten so viele Menschen wie möglich mit den Texten erreicht werden, deshalb wurde eine einfache sowie nüchterne Alltagssprache verwendet. Die Freiheit von Wort und Schrift war zwar verfassungsmäßig garantiert, doch bereits 1922 wurde nach der Ermordung von Walter Rathenau das Republikschutzgesetz erlassen, das diese Freiheit wieder einschränkte. Viele Schriftsteller litten unter dieser Zensur. In der Praxis wurde dieses Gesetz allerdings nur gegen linke Autoren angewandt. Aber gerade die rechts gerichteten Schriftsteller waren es häufig, die in ihren Werken offen Gewalt verherrlichten. Die Grenzen der Zensur wurden im Jahr 1926 durch das sogenannte Schund- und Schmutzgesetz nochmals verstärkt. Die Beschlagnahmung von Schriften und das Verbot von Zeitungen wurden durch die Pressenotverordnung im Jahr 1931 ermöglicht.

Als Exilliteratur wird die Literatur von Schriftstellern bezeichnet, die unfreiwillig Zuflucht in der Fremde suchen müssen, weil ihre Person oder ihr Werk in ihrer Heimat bedroht sind. Für die Flucht ins Exil geben meist politische oder religiöse Gründe den Ausschlag. Die deutsche Exilliteratur entstand in den Jahren von 1933 bis 1945 als Literatur der Gegner des Nationalsozialismus. Dabei spielten zum Beispiel die Bücherverbrennungen am 10. Mai 1933 und der deutsche Überfall auf die Nachbarstaaten 1938/39 eine ausschlaggebende Rolle. Die Exilliteratur bildet eine eigene Epoche in der deutschen Literaturgeschichte. Sie schließt an die Neue Sachlichkeit der Weimarer Republik an. Themen wie Verlust der eigenen Kultur, existenzielle Probleme, Sehnsucht nach der Heimat oder Widerstand gegen das nationalsozialistische Deutschland sind typisch für diese Literaturepoche. Bestimmte formale Gestaltungsmittel wie zum Beispiel Metrum, Reimschema oder der Gebrauch bestimmter rhetorischer Mittel lassen sich in der Exilliteratur nicht finden. Allerdings gab es einige neue Gattungen, die in dieser Literaturepoche geboren wurden. Das epische Theater von Brecht oder auch die historischen Romane waren neue literarische Textsorten. Aber auch Flugblätter und Radioreden der Widerstandsbewegung sind hierbei als neue Textsorten zu erwähnen. Oftmals wurden die Texte auch getarnt, so dass sie trotz Zensur nach Deutschland gebracht werden konnten. Dies waren dann die sogenannten Tarnschriften.

Das Gedicht besteht aus 25 Versen mit insgesamt 5 Strophen und umfasst dabei 142 Worte. Der Dichter Kurt Tucholsky ist auch der Autor für Gedichte wie „Also wat nu – ja oder ja?“, „An Lukianos“ und „An Peter Panter“. Zum Autor des Gedichtes „Die Schweigende“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 136 Gedichte vor.

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