Die Pfeife von Erich Mühsam

Wusch ich mich schon vor einem Jahr
zum letztenmal mit Seife,
so ward jetzt auch der Tabak gar.
Schwarz gähnt das Maul der Pfeife.
Ein kalter Ruch – Erinnerungswahn –
entdünstet trüb dem Rachen.
Die taubste Nuß, der hohlste Zahn
kann nicht so traurig machen.
Der Tabakbeutel schlaff und leer
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rutscht grämlich durch die Hände.
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Kein lustig blaues Wölkchen mehr
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belebt die kahlen Wände.
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Wo ist der Qualm, der mir im Raum
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die fade Luft gesäuert,
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der mich umwirkt mit süßem Traum,
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den Genius mir befeuert?
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Wo ist das braune Zauberkraut,
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das alle Grillen bannte?
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Verbraucht, verschmaucht, verraucht, verdaut –
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dahin ins Unbekannte!
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Da liegt er nun, der Pfeifenkopf,
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ein Anblick zum Erbarmen,
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und wartet, daß ihn jemand stopf.
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Es hilft dir nichts, dir Armen.
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So gings dem Vaterlande auch.
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Jetzt habt ihr die Erfahrung:
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Erst hochgepafft den dicken Rauch,
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und nachher fehlts an Nahrung.
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Die Seife schmolz dahin zu Schaum,
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jetzt wäscht man sich mit Speichel
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und raucht das Laub vom Lindenbaum
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mit kleingeriebener Eichel.
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Vertan, verpulvert, aufgezehrt,
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was unser war alltäglich.
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Lieb Vaterland, jetzt heißts: entbehrt!
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Der Rest ist arm und kläglich.
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Wieviele Tage, Wochen noch
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hält sich der Rest im Sacke?
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Schon sickert er durchs Hungerloch
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gleich meinem Rauchtabake.
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Was wird aus dir, lieb Vaterland?
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Des eignen Ruhms Attrappe,
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ein ausgeblasenes Ei im Sand,
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ein Siegesaar aus Pappe.
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Herausgesogen bis zum Grund
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der letzte Lebenstropfen.
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Ein leergebrannter Pfeifenschlund,
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und nichts mehr nachzustopfen.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.9 KB)

Details zum Gedicht „Die Pfeife“

Anzahl Strophen
1
Anzahl Verse
48
Anzahl Wörter
232
Entstehungsjahr
1920
Epoche
Expressionismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Die Pfeife“ ist von Erich Mühsam, einem deutschen Schriftsteller und Anarchisten, der von 1878 bis 1934 lebte. Mühsam zählte zu den bedeutendsten Vertretern der literarischen Avantgarde, insbesondere der expressionistischen Bewegung, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland entwickelte.

Beim ersten Lesen des Gedichts wird deutlich, dass Mühsam düstere Töne und Bilder benutzt, um einen Zustand der Verzweiflung und Nostalgie zu erzeugen.

Das Gedicht handelt von einer Person, dem lyrischen Ich, das in der Vergangenheit aufgehört hat, sich zu waschen und Tabak zu rauchen. Jetzt, nach einem Jahr, scheint das lyrische Ich besonders den Tabak zu vermissen - sein Tabakbeutel ist leer, seine Pfeife schwarz und leer, und er kann keine „lustigen blauen Wolken“ mehr aus Tabakrauch produzieren. Aber es geht nicht nur um den Mangel an Tabak und Seife. Mühsam nutzt die Pfeife als Metapher für das Vaterland, speziell Deutschland. Der Mangel an Tabak in der Pfeife symbolisiert die schwierigen Zeiten, die das Land durchlebt.

Formal besteht das Gedicht aus 48 gebundenen Versen, die Reime sind weitgehend männliche und weibliche Reime. Die Sprache ist relativ einfach und direkt, jedoch mit einem Hauch von Ironie und Satire, wie es typisch für Mühsam war.

Das Gedicht ist eine sozialkritische Äußerung, die die materielle Not und die desolate Lage des Landes zur damaligen Zeit beklagt. Die Pfeife wird hier zum Sinnbild eines ausgebrannten, ausgezehrten Landes, das seine Ressourcen verbraucht hat. Der Vers „Lieb Vaterland, jetzt heißts: entbehrt!“ verdeutlicht die Aufforderung an das Land, sich den schwierigen Bedingungen zu stellen und zu verzichten. Der Ausdruck des eigenen Leidens und der Verzweiflung ist klar und stark, was den tiefgreifenden pessimistischen Eindruck des Gedichts noch unterstreicht. Dabei klingt immer wieder auch Kritik an der herrschenden Politik und Gesellschaft durch.

Weitere Informationen

Erich Mühsam ist der Autor des Gedichtes „Die Pfeife“. Im Jahr 1878 wurde Mühsam in Berlin geboren. 1920 ist das Gedicht entstanden. In München ist der Text erschienen. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zur Epoche Expressionismus zu. Der Schriftsteller Mühsam ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 232 Wörter. Es baut sich aus nur einer Strophe auf und besteht aus 48 Versen. Weitere bekannte Gedichte des Autors Erich Mühsam sind „1919“, „An die Dichter“ und „An die Soldaten“. Zum Autor des Gedichtes „Die Pfeife“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 57 Gedichte vor.

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