Die Natur von Johann Gottfried Herder

Hast du, hast du nicht gesehn,
Wie sich alles drängt zum Leben?
Was nicht Baum kann werden,
Wird doch Blatt;
Was nicht Frucht kann werden,
Wird doch Keim.
 
Hast du, hast du nicht gesehn,
Wie von Leben alles voll ist?
Schon im Blatt, des Baumes
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Hoher Bau;
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Schon im Keim, der Früchte
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Volle Kraft.
 
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Reiche Fülle der Natur,
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Labyrinth zum neuen Leben,
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Kürzend tausend Wege
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Tausendfach,
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Ueberall belebend,
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Allbelebt.
 
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Lebend Weben der Natur,
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Ewger Frühling ewger Keime,
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Wenn sie mir verwelken,
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Sterben sie?
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Kann ein Leben sterben,
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Das da lebt?
 
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Nein ihr blühet wo ihr seyd,
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Hingelangt auf kurzem Wege,
27 
Säuglinge der Mutter,
28 
Zartes Heer.
29 
Ihre liebsten Kinder
30 
Ruft sie früh.
 
31 
Selig, selig, wo ihr seyd,
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In des Ewgen Paradiese.
33 
Hier am Lebensbaume,
34 
Blüthen nur;
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Dort am Lebensbaume,
36 
Früchte schon.
 
37 
Großer Abgrund der Natur!
38 
Und der Tod ist Weg zum Leben.
39 
Dieser Staub wird Pflanze
40 
Nur durch Tod;
41 
Jenes Kind wird Engel
42 
Nur durch Tod.
 
43 
Selig, selig, der ich bin
44 
In der Welt voll Leben Gottes.
45 
Meine Adern wallen
46 
Seinen Strom;
47 
Meine Seele denket
48 
Gottes Licht.
 
49 
Hoher Abgrund der Natur,
50 
Worinn Alles sich belebet!
51 
Alle Kräfte, Gottes
52 
Feuerstral,
53 
Alle Seelen, Gottes
54 
Lebenslicht.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27 KB)

Details zum Gedicht „Die Natur“

Anzahl Strophen
9
Anzahl Verse
54
Anzahl Wörter
192
Entstehungsjahr
1787
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Die Natur“ stammt von Johann Gottfried Herder, einem einflussreichen deutschen Dichter der Aufklärung und des Sturm und Drang, der von 1744 bis 1803 lebte. Somit lässt sich das Werk in den historischen Kontext des ausgehenden 18. Jahrhunderts einordnen.

Auf den ersten Blick fallt auf, dass das Gedicht einen starken Fokus auf Natur und Leben legt. Allerdings stellt es auch Fragen über den Tod und das Jenseits. Es besteht aus neun Strophen mit jeweils sechs Versen.

Vom Inhalt her reflektiert das lyrische Ich über die Schönheit und Komplexität der Natur, vor allem über ihr Bestreben, Leben zu schaffen und weiterzutragen. Durch Beobachtung stellt das lyrische Ich fest, dass alles in der Natur darauf aus ist zu wachsen und zu gedeihen, egal ob Baum, Blatt, Frucht oder Keim. Es betont die Fülle und den Reichtum der Natur und ihre unermüdliche Fähigkeit, neues Leben zu schaffen. Es spricht vom ewigen Zyklus von Leben und Tod und erhebt die Vorstellung, dass der Tod nur ein Übergang zu einem neuen Leben ist.

Von der formalen Seite fällt auf, dass das Gedicht in einem regelmäßigen Versmaß gehalten ist. Die Sprache ist bildhaft und emotionell, teils geprägt von der religiösen Vorstellung eines göttlichen Lebenslichts und Feuerstrahls.

Insgesamt vermittelt das Gedicht eine positive Haltung gegenüber der Natur und dem Leben. Es lädt den Leser dazu ein, sich der Schönheit und Komplexität der Natur bewusst zu werden und die Vergänglichkeit des Lebens - und selbst den Tod - aus einer anderen, positiveren Perspektive zu betrachten.

Weitere Informationen

Johann Gottfried Herder ist der Autor des Gedichtes „Die Natur“. Herder wurde im Jahr 1744 in Mohrungen (Ostpreußen) geboren. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1787. Der Erscheinungsort ist Gotha. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zugeordnet werden. Bei Herder handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Sturm und Drang ist die Bezeichnung für die Literaturepoche in den Jahren von etwa 1765 bis 1790 und wird häufig auch zeitgenössische Genieperiode oder Geniezeit genannt. Diese Bezeichnung entstand durch die Verherrlichung des Genies als Urbild des höheren Menschen und Künstlers. Der Sturm und Drang knüpft an die Empfindsamkeit an und geht später in die Klassik über. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dominierte der Geist der Aufklärung das literarische und philosophische Denken im deutschen Sprachraum. Der Sturm und Drang „stürmte“ und „drängte“ als Protest- und Jugendbewegung gegen diese aufklärerischen Ideale. Ein wesentliches Merkmal des Sturm und Drang ist somit ein Rebellieren gegen die Epoche der Aufklärung. Die Schriftsteller der Epoche des Sturm und Drangs waren häufig unter 30 Jahre alt. Die Autoren versuchten in den Gedichten eine geeignete Sprache zu finden, um die subjektiven Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen. Die alten Werke vorangegangener Epochen wurden geschätzt und dienten als Inspiration. Aber dennoch wurde eine eigene Jugendkultur und Jugendsprache mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Wiederholungen und Halbsätzen geschaffen. Mit seinen beiden wichtigen Vertretern Goethe und Schiller entwickelte sich der Sturm und Drang weiter und ging in die Weimarer Klassik über.

Die Weimarer Klassik war geprägt durch die Französische Revolution mit ihren Forderungen nach Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit. Der Kampf um eine Verfassung, die revolutionäre Diktatur unter Robespierre und der darauffolgende Bonapartismus führten zu den Grundstrukturen des 19. Jahrhundert (Nationalismus, Liberalismus und Imperialismus). Die Literaturepoche der Weimarer Klassik lässt sich zeitlich mit Goethes Italienreise im Jahr 1786 und mit Goethes Tod 1832 eingrenzen. Das Zentrum dieser Literaturepoche lag in Weimar. Es sind sowohl die Bezeichnungen Klassik als auch Weimarer Klassik gebräuchlich. Statt auf Widerspruch und Konfrontation wie noch in der Aufklärung oder im Sturm und Drang strebte die Klassik nach Harmonie. Die wichtigsten Werte sind Menschlichkeit und Toleranz. Die Klassik orientierte sich an klassischen Vorbildern aus der Antike. Ziel der Literaturepoche der Klassik war es die ästhetische Erziehung des Menschen zu einer „charakterschönen“ Persönlichkeit zu forcieren. In der Lyrik haben die Autoren auf Gestaltungs- und Stilmittel aus der Antike zurückgegriffen. Beispielsweise war so die streng an formale Kriterien gebundene Ode besonders populär. Außerdem verwendeten die Dichter jener Zeit eine pathetische, gehobene Sprache. Die populärsten Dichter der Klassik sind: Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Johann Gottfried von Herder und Christoph Martin Wieland.

Das vorliegende Gedicht umfasst 192 Wörter. Es baut sich aus 9 Strophen auf und besteht aus 54 Versen. Weitere bekannte Gedichte des Autors Johann Gottfried Herder sind „An Auroren“, „An den Schlaf“ und „An die Freundschaft“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Die Natur“ weitere 413 Gedichte vor.

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