Die Lumpensammlerin von Joachim Ringelnatz

Hält sie den Kopf gesenkt wie ein Ziegenbock,
Ihre Gemüsenase,
Ihr spitzer Höcker, ihr gestückelter Rock
Haben die gleiche farblose Drecksymphonie
Der Straße.
Mimikry.
 
Selbständig krabbeln ihre knöchernen Hände
Die Gosse entlang zwischen Kehricht und Schlamm,
Finden Billette, Nadeln und Horngegenstände,
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Noch einen Knopf und auch einen Kamm.
 
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Über Speichel und Rotz zittern die Finger;
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Hundekötel werden wie Pferdedünger
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Sachlich beiseitegeschoben.
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Lumpen, Kork, Papier und Metall werden aufgehoben,
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Stetig – stopf – in den Sack geschoben.
 
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Der Sack stinkt aus seinem verbuchteten Leib.
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Er hat viel spitzere Höcker.
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Er ist noch ziegenböcker
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Als jenes arg mürbe Weib.
 
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Schlürfend, schweigsam schleppt sie, schleift sie die Bürde.
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Wenn sie jemals niesen würde,
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Was wegen Verstopfung bisher nie geschah,
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Würde die gute Alte zerstäuben
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Wie gepusteter Paprika. –
 
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Und was würde übrigbleiben?
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Eine Schnalle von ihrem Rock,
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Sieben Stecknadeln, ein Berlock,
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Vergoldet oder vernickelt.
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Vielleicht auch: Vielmals eingewickelt
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Und zwischen zwei fettigen Pappen:
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Fünfzig gültige, saubere blaue Lappen.
 
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Irgendwo würde ein Stall erbrochen,
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Fände man sortiert, gestapelt, gebündelt, umschnürt
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Lumpen, Stanniol, Strumpfenbänder und Knochen.
 
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Was hat die Hexe für ein Leben geführt?
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Vielleicht hat sie Lateinisch gesprochen.
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Vielleicht hat einst eine Zofe sie manikürt.
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Vielleicht ist sie vor tausend Jahren als Spulwurm
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Durch das Gedärm eines Marsbewohners gekrochen.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.9 KB)

Details zum Gedicht „Die Lumpensammlerin“

Anzahl Strophen
8
Anzahl Verse
39
Anzahl Wörter
202
Entstehungsjahr
1933
Epoche
Moderne,
Expressionismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Die Lumpensammlerin“ wurde von Joachim Ringelnatz verfasst. Joachim Ringelnatz wurde am 7. August 1883 geboren und verstarb am 17. November 1934. Das Gedicht stammt also aus dem Zeitraum zwischen diesen beiden Daten.

Der erste Eindruck des Gedichts ist düster und melancholisch. Der Tonfall ist eher nüchtern und beschreibt die Lumpensammlerin und ihre Tätigkeit ohne Emotionen oder Wertung.

Das Gedicht beschreibt eine Lumpensammlerin, die mit gesenktem Kopf und einem gestückelten Rock durch die Straßen zieht. Ihre Erscheinung wird als farblose „Drecksymphonie“ bezeichnet. Sie sammelt mit knochigen Händen Dinge wie Billette, Nadeln und Horngegenstände auf, aber auch Lumpen, Kork, Papier und Metall. Alles wird in einen stinkenden Sack gestopft, der noch ziegenböckscher ist als die Frau selbst. Die Lumpensammlerin schleift die schwere Bürde schweigsam und schlürfend mit sich herum. Es wird erwähnt, dass sie bisher nie geniest hat, da sie sonst wie zerstäubter Paprika auseinanderfallen würde. Im letzten Teil des Gedichts wird spekuliert, was von der Lumpensammlerin übrigbleiben würde, wenn sie nicht mehr da wäre. Es werden verschiedene Gegenstände aufgelistet, die sie in ihrem Sack gesammelt hat: eine Schnalle, Stecknadeln, ein Berlock, vergoldet oder vernickelt, und fünfzig saubere blaue Lappen. Das Gedicht endet mit der Vorstellung, dass irgendwo ein Stall in Erbrochenem versinken würde, wo sortierte, gestapelte und gebündelte Lumpen, Stanniol, Strumpfenbänder und Knochen zu finden wären.

Die Form des Gedichts besteht aus acht Strophen, wobei jede Strophe eine unterschiedliche Anzahl von Versen hat. Inhaltlich wird die Lumpensammlerin und ihre Tätigkeit beschrieben. Die Sprache ist relativ schlicht und ohne übermäßige Metaphorik. Es werden jedoch markante Bilder und Gegensätze verwendet, um die triste Realität der Lumpensammlerin darzustellen, wie beispielsweise die Vorstellung, dass sie wie Paprika zerstäuben würde, wenn sie niesen würde. Ringelnatz gibt mit diesem Gedicht einen eher realistischen Einblick in das Leben einer vom Leben gezeichneten Frau und stellt Fragen nach ihrem Wert und ihrer Bedeutung.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Die Lumpensammlerin“ ist Joachim Ringelnatz. Der Autor Joachim Ringelnatz wurde 1883 in Wurzen geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1933 zurück. Der Erscheinungsort ist Berlin. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Moderne oder Expressionismus zuordnen. Ringelnatz ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen. Das Gedicht besteht aus 39 Versen mit insgesamt 8 Strophen und umfasst dabei 202 Worte. Die Gedichte „Afrikanisches Duell“, „Alone“ und „Alte Winkelmauer“ sind weitere Werke des Autors Joachim Ringelnatz. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Die Lumpensammlerin“ weitere 560 Gedichte vor.

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