Die Leibesfrucht von Kurt Tucholsky

Du bist so schwer, du bist so blaß –
was hast du, Mutter?
Du willst etwas und weißt nicht was –
was hast du, Mutter?
„Ich trag in meinem Leibe ein Kind;
ich weiß, wie seine Geschwister sind:
ohne Stiefel, ohne Wolle, ohne Milch, ohne Butter –
ich bin eine Mutter! Ich will keine Mutter mehr sein!
Laß mich schrein –!
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Laß mich schrein –!“
 
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Es darf und darf mir nicht zur Welt!
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„Frau, was wollen Sie?“
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Mein Mann ohne Stellung – wir haben kein Geld!
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„Frau, was wollen Sie?“
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Ich will nicht, daß man für eine Nacht
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mich und die Kinder unglücklich macht!
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Dieselben Rechte will ich wie die Reichen,
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die ungestraft zum Abtreiber schleichen –
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Warum will mich denn keiner befrein?
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Laßt mich schrein –!
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Laßt mich schrein –!
 
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Mit Schreien ist da nichts getan –
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Wacht auf, ihr Frauen!
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Nieder mit kirchlichem Größenwahn!
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Wacht auf, ihr Frauen!
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Ihr krümmt Euch vor Schmerzen, und in Euer Ohr
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tönt heulend der Unternehmerchor:
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„Trag es aus! Trag es aus!
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Trag es aus im Sturmgebraus!
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Wenn der Staat bleibt bestehn,
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könnt Ihr alle zu Grunde gehn!
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Ihr habt nichts zu fressen?
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Wir brauchen die Kinder für Dortmund und Essen,
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für die Reichswehr und für die Bureaus –
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und wenn Ihr krepiert, dann sind wir Euch los!“
 
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*
 
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Aus Jodoform und blutigem Leinen
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kommt winselnd eines Kindes Weinen.
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Es wartet an dem kleinen Bett
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bereits ein mächtiges Quartett:
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Fabrik. Finanzamt. Schwindsucht. Kirchenzucht.
 
42 
Das ist das Schicksal einer deutschen Leibesfrucht.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.8 KB)

Details zum Gedicht „Die Leibesfrucht“

Anzahl Strophen
6
Anzahl Verse
42
Anzahl Wörter
235
Entstehungsjahr
1929
Epoche
Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit,
Exilliteratur

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Die Leibesfrucht“ wurde von Kurt Tucholsky verfasst, der von 1890 bis 1935 lebte. Das Gedicht kann zeitlich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eingeordnet werden.

Der erste Eindruck des Gedichts ist zunächst von einer düsteren und belastenden Stimmung geprägt. Das lyrische Ich beschreibt eine schwangere Mutter, die scheinbar unter großen körperlichen und emotionalen Belastungen leidet.

Der Inhalt des Gedichts handelt von einer Mutter, die unter der Schwere und den Herausforderungen ihrer Schwangerschaft leidet. Sie ist müde, blass und fühlt sich überfordert. In den ersten Strophen möchte sie nicht länger Mutter sein und möchte verzweifelt schreien. In den folgenden Strophen äußert sie ihre Sorgen und Ängste, dass das Kind in dieser schwierigen Situation geboren wird, da ihr Mann arbeitslos ist und sie finanziell keine Unterstützung haben. Sie wünscht sich die Möglichkeit, eine Abtreibung vornehmen zu können, wie es die Reichen ohne Konsequenzen tun können. Das lyrische Ich fordert andere Frauen auf, sich gegen die patriarchalischen Strukturen der Kirche und der Unternehmer aufzulehnen, um ihre Rechte und Freiheit zu erkämpfen. Das Gedicht endet mit der resignierenden Feststellung, dass das Schicksal deutscher Leibesfrüchte von Fabriken, Finanzamt, Tuberkulose und kirchlicher Disziplin bestimmt wird.

Das Gedicht besteht aus sechs Strophen mit unterschiedlicher Anzahl an Versen. Die erste Strophe hat 10 Verse, die zweite Strophe hat 11 Verse, die dritte Strophe hat 14 Verse, die vierte Strophe besteht nur aus einem Vers, die fünfte Strophe hat 5 Verse und die letzte Strophe besteht wieder nur aus einem Vers. Die Form des Gedichts wirkt unregelmäßig und nicht gebunden an ein bestimmtes Metrum. Die Sprache ist einfach und direkt, um die drängenden Sorgen und Gefühle des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen. Es werden kurze, prägnante Sätze verwendet, um eine bissige und kritische Atmosphäre zu schaffen. Der Einsatz von Wiederholungen verstärkt den eindringlichen Ton des Gedichts und unterstreicht die Verzweiflung des lyrischen Ichs.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Die Leibesfrucht“ ist Kurt Tucholsky. 1890 wurde Tucholsky in Berlin geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1929 zurück. Erscheinungsort des Textes ist Berlin. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text den Epochen Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit oder Exilliteratur zugeordnet werden. Der Schriftsteller Tucholsky ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen.

Der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918 und die daraufhin folgende Entstehung und der Fall der Republik hatten erheblichen Einfluss auf die Literatur der Weimarer Republik. Neue Sachlichkeit ist eine Richtung der Literatur der Weimarer Republik. In den Werken dieser Zeit ist die zwischen den Weltkriegen hervortretende Tendenz zu illusionsloser und nüchterner Darstellung von Gesellschaft, Technik, Weltwirtschaftskrise aber auch Erotik deutlich erkennbar. Man kann dies auch als Reaktion auf den literarischen Expressionismus werten. Die Handlung wurde meist nur kühl und distanziert beobachtet. Die Dichter orientierten sich dabei an der Realität. Mit einem Minimum an Sprache wollte man ein Maximum an Bedeutung erreichen. Mit den Texten sollten so viele Menschen wie möglich erreicht werden. Deshalb wurde darauf geachtet eine nüchterne sowie einfache Alltagssprache zu verwenden. Viele Schriftsteller litten unter der Zensur in der Weimarer Republik. Im Jahr 1922 wurde nach einem Attentat auf den Reichsaußenminister das Republikschutzgesetz erlassen, das die zunächst verfassungsmäßig garantierte Freiheit von Wort und Schrift in der Weimarer Republik deutlich einschränkte. Dieses Gesetz wurde in der Praxis nur gegen linke Autoren angewandt, nicht aber gegen rechte, die teils in ihren Werken offen Gewalt verherrlichten. Das 1926 erlassene Schund- und Schmutzgesetz verstärkte die Grenzen der Zensur nochmals. Später als die Pressenotverordnung im Jahr 1931 in Kraft trat, war sogar die Beschlagnahmung von Schriften und das Verbot von Zeitungen über mehrere Monate möglich.

Im Laufe der Geschichte gab es immer wieder Autoren, die ins Exil fliehen, also ihre Heimat verlassen mussten. Dies geschah insbesondere zu Zeiten des Nationalsozialismus. Die Exilliteratur geht aus diesem Umstand hervor. Der Ausgangspunkt der Exilbewegung Deutschlands war der Tag der Bücherverbrennung am 30. Mai 1933. Die Exilliteratur der Literaturgeschichte Deutschlands bildet eine eigene Literaturepoche und folgt auf die Neue Sachlichkeit der Weimarer Republik. Die Exilliteratur lässt sich insbesondere an den thematischen Schwerpunkten wie Sehnsucht nach der Heimat, Widerstand gegen Nazi-Deutschland oder Aufklärung über den Nationalsozialismus ausmachen. Bestimmte formale Merkmale lassen sich jedoch nicht finden. Die Exilliteratur weist häufig einen Pluralismus der Stile (Realismus und Expressionismus), eine kritische Betrachtung der Wirklichkeit und eine Distanz zwischen Werk und Leser oder Publikum auf. Sie hat häufig die Absicht zur Aufklärung und möchte Gesellschaftsentwicklungen aufzeigen (wandelnder Mensch, Abhängigkeit von der Gesellschaft).

Das 235 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 42 Versen mit insgesamt 6 Strophen. Weitere Werke des Dichters Kurt Tucholsky sind „An einen garnisondienstfähigen Dichter“, „An ihren Papa“ und „Apage, Josephine, apage–!“. Zum Autor des Gedichtes „Die Leibesfrucht“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 136 Gedichte vor.

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