Am 19. Februar 1818 morgens unter den Linden von Clemens Brentano

Wie treu scheint Gottes Sonne
Heut in die Welt herein,
Die Zeit erwacht mit Wonne
Im neuen Gnadenschein.
 
Es zünden alle Kerzen
Sich schon zum Feste an,
Und alle frommen Herzen
Sind festlich angetan.
 
Welch Kleid soll ich denn nehmen,
10 
Hab' ich kein Hochzeitskleid?
11 
Soll ich allein mich schämen
12 
In dieser heil'gen Zeit?
 
13 
Ist denn mein Kranz zerrissen,
14 
Ist mein Gewand befleckt,
15 
Hilf, Herr, der mein Gewissen,
16 
Der meine Blöße deckt!
 
17 
Laß einsam mich hier trauern,
18 
Da du zur Wüste giengst,
19 
Auf deine Rückkehr lauern,
20 
Bis du ein Kleid mir bringst.
 
21 
Ich streu' mein Haupt mit Asche
22 
Hüll' mich in Buße ein,
23 
Mit bittren Tränen wasche,
24 
Ich doch mein Kleid nicht rein.
 
25 
Und denk' auf alle Fragen,
26 
Warum ich so betrübt,
27 
In diesen vierzig Tagen
28 
Hat Jesus sich geübt.
 
29 
Mein Heil gieng in die Wüste
30 
Und ward vom Feind versucht,
31 
Und ach, so lang ich büßte,
32 
Bracht' ich doch keine Frucht.
 
33 
So oft ich mich auch wagte
34 
In seiner Gnade Schein,
35 
War mir's, als ob ich sagte,
36 
Mach Brot aus diesem Stein.
 
37 
Und doch hat er vergossen
38 
Um mich sein teures Blut,
39 
Auf mich ist es geflossen,
40 
Und doch bin ich nicht gut.
 
41 
Bin immer nicht ergeben,
42 
Treib' ewig hin und her,
43 
Mach' das erlöste Leben
44 
Der armen Seele schwer.
 
45 
Mein eignes Blut unbändig
46 
Will stets der Herrscher sein,
47 
O Gott, mach mich lebendig,
48 
Sei du mein Herr allein.
 
49 
Laß dieses Eis zerbrechen
50 
Vor deinem Sonnenschein,
51 
Und zieh auf Gnadenbächen
52 
Im Frühling zu mir ein.
 
53 
In deiner Lieb' geborgen,
54 
Mag Lilie, die nicht spinnt,
55 
Mag auch kein Vöglein sorgen,
56 
Viel wen'ger noch ein Kind.
 
57 
Wie oft im jungen Herzen
58 
Nannt' ich mich selig so,
59 
Und ward in Freud und Schmerzen
60 
Recht meiner Kindschaft froh.
 
61 
Nur du allein kannst wissen
62 
Wie mich dein Gruß erquickt,
63 
Und was mein Herz mußt' missen,
64 
Wenn es von dir geblickt.
 
65 
Kein andrer Blick kann taugen,
66 
Mein Jesu mach mich blind,
67 
Führ' unter deinen Augen
68 
Auf reiner Bahn dein Kind.
 
69 
Dein Tau steht auf den Auen
70 
Und macht die Gräser frisch,
71 
Herr, gebe mir Vertrauen,
72 
Führ' mich zu deinem Tisch.
 
73 
Laß alles Widersprechen
74 
In mir getilget sein,
75 
Und mach mich vom Verbrechen
76 
Des Eigenwillens rein.
 
77 
Den Vater hab' ich funden
78 
Erkannt auch seine Braut,
79 
Die Kirche, durch die Wunden
80 
Der Märtrer ihm getraut.
 
81 
Ich zage vor der Türe,
82 
Ob ich dich bei ihr find',
83 
Zum Schoß der Mutter führe,
84 
O Jesu, selbst dein Kind.
 
85 
Gieb daß in bittrer Reue
86 
Ich alles Rückhalts bloß
87 
Bekennend mich erneue
88 
In ihrem Gnadenschoß.
 
89 
Daß reiner als geboren
90 
Daß wie getauft so rein,
91 
Ich, was ich je verloren
92 
In Buße nehme ein.
 
93 
Laß mich das Wählen enden,
94 
Das der Versuchung gleicht
95 
Zu Brot in meinen Händen
96 
Sei dieser Stein erweicht.
 
97 
Und von des Priesters Worten,
98 
Der deine Weihe trägt,
99 
Sei es zu dir geworden,
100 
Mir unters Herz gelegt.
 
101 
Dann gieb, daß wie die Reine,
102 
Die dich empfangen trug
103 
Ich glaubend jauchz' und weine
104 
Und nie, ach nie genug.
 
105 
Dann, in der Zeiten Fülle
106 
Stell', wie die dich gebar,
107 
Ich, bricht des Leibes Hülle,
108 
Dein Bild im Himmel dar.
 
109 
Dann trage voll Erbarmen
110 
Den Geist vor deinem Thron
111 
In deinen Vaterarmen,
112 
Sei du mein Simeon.
 
113 
Und deine Mutter süße,
114 
Laß mir die Hanna sein,
115 
Daß sie mich freudig grüße,
116 
In deiner Sel'gen Reihn.
 
117 
Mein Hoffen, Lieben, Glauben
118 
Bring' dir die Kirche dar,
119 
Wie deine Mutter Tauben
120 
Geopfert am Altar.
 
121 
O Herr, zu solcher Wonne
122 
Gabst du mir selbst Geleit,
123 
Und die geschaffne Sonne
124 
Scheint dennoch mir zu Leid.
 
125 
Was ist's, daß ich verzage,
126 
Welch Leid ist mir geschehn,
127 
Die armen flücht'gen Tage
128 
Von dir geschmückt zu sehn.
 
129 
Mit Sonnenglanz begrüßte
130 
Die Zeit das Erdenland,
131 
Die fastend in der Wüste
132 
Dir im Gebet verschwand.
 
133 
Das Leben dich versuchet,
134 
Mach Brot aus diesem Stein,
135 
Hör' ich, die du verfluchet,
136 
Die bunte Schlange schrein.
 
137 
Und auf des Tempels Zinnen
138 
Und zu dem Reich der Welt
139 
Wird auf dem Berg den Sinnen
140 
Die Seele ausgestellt.
 
141 
Herr, laß dein Wort mich hören;
142 
Sprich, Satan weich von ihr,
143 
Ruf mit den Engelchören
144 
Dein Kind zu dienen dir.
 
145 
Es sei die junge Sonne
146 
Und diese milde Zeit
147 
Dir eine Festeswonne
148 
In meiner Brust bereit.
 
149 
Laß nicht tirannisieren
150 
In mir das eigne Blut,
151 
Herr laß mich triumphieren
152 
In deiner Wunden Flut.
 
153 
Heran, heran ihr Blüten
154 
Nun öffnet euren Schoß
155 
Neu bricht nun ohn' Ermüden
156 
Der Strom der Gnade los.
 
157 
Mit reinen Kelchen trinken
158 
Sollt bald ihr Jesu Blut
159 
Wenn er sein Haupt läßt sinken
160 
Dann, dann ist alles gut.
 
161 
Wenn er erst ausgesprochen,
162 
Das Vater, das Vollbracht,
163 
Dann ist der Tod gebrochen,
164 
Und nur auf Erden Nacht.
 
165 
Er wird den Stein schon heben
166 
Er wird schon auferstehn,
167 
Daß die ihm sterbend leben
168 
Ihn ewig wiedersehn.
 
169 
Ihr Blumen euch zur Seite
170 
Steh' ich am Grabe fromm
171 
Und heiß' in Lieb und Leide
172 
Den Herrn mit euch willkomm.
 
173 
Wir brauchen nicht zu klagen,
174 
Er hat uns ja gelehrt,
175 
Das Vater Unser sagen,
176 
Das Wort das er erhört.

Details zum Gedicht „Am 19. Februar 1818 morgens unter den Linden“

Anzahl Strophen
44
Anzahl Verse
176
Anzahl Wörter
815
Entstehungsjahr
1818
Epoche
Romantik

Gedicht-Analyse

Der Autor des Gedichtes „Am 19. Februar 1818 morgens unter den Linden“ ist Clemens Brentano. Der Autor Clemens Brentano wurde 1778 in Ehrenbreitstein (Koblenz) geboren. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1818. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Romantik zuordnen. Der Schriftsteller Brentano ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche.

Die Romantik war eine Epoche der europäischen Literatur, Kunst und Kultur. Sie begann gegen Ende des 18. Jahrhunderts und dauerte in der Literatur bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Romantik kann in drei Phasen unterteilt werden: Frühromantik (bis 1804), Hochromantik (bis 1815) und Spätromantik (bis 1848). Die Zeit der Romantik war für die Menschen in Europa von Umbrüchen geprägt. Die Französische Revolution (1789 - 1799) zog weitreichende Folgen für ganz Europa nach sich. Auch der Fortschritt in Wissenschaft und Technik, der den Beginn des industriellen Zeitalters einläutete, verunsicherte die Menschen und prägte die Gesellschaft. Weltflucht, Hinwendung zur Natur, Verklärung des Mittelalters (damalige Kunst und Architektur wurde nun wieder geschätzt), Rückzug in Fantasie- und Traumwelten, Betonung des Individuums und romantische Ironie sind typische Merkmale der Romantik. Die Themen der Romantik zeigen sich in verschiedenen Motiven und Symbolen. So gilt beispielsweise die Blaue Blume als das zentrale Motiv der Romantik. Sie symbolisiert Sehnsucht und Liebe und verbindet Natur, Mensch und Geist. Die Nacht hat ebenfalls eine besondere Bedeutung in der Literatur der Romantik. Sie ist der Schauplatz für viele weitere Motive dieser Epoche: Vergänglichkeit, Tod und nicht alltägliche, obskure Phänomene. Im ebenfalls in dieser Epoche zu findenden Spiegelmotiv zeigt sich die Hinwendung der Romantik zum Unheimlichen. Die äußere Form von romantischer Literatur ist dabei völlig offen. Kein starres Schema grenzt die Literatur ein. Dies steht ganz im Gegensatz zu den strengen Normen der Klassik. In der Romantik entstehen erstmals Sammlungen so genannter Volkspoesie. Bekannte Beispiele dafür sind Grimms Märchen und die Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn. Doch bereits direkt nach Erscheinen wurde die literarische Bearbeitung (Schönung) durch die Autoren kritisiert, die damit ihre Rolle als Chronisten weit hinter sich ließen.

Das vorliegende Gedicht umfasst 815 Wörter. Es baut sich aus 44 Strophen auf und besteht aus 176 Versen. Weitere Werke des Dichters Clemens Brentano sind „Im Wetter auf der Heimfahrt“, „Die Abendwinde wehen“ und „14. Juli 1834“. Zum Autor des Gedichtes „Am 19. Februar 1818 morgens unter den Linden“ haben wir auf abi-pur.de weitere 297 Gedichte veröffentlicht.

+ Wie analysiere ich ein Gedicht?

Daten werden aufbereitet

Fertige Biographien und Interpretationen, Analysen oder Zusammenfassungen zu Werken des Autors Clemens Brentano

Wir haben in unserem Hausaufgaben- und Referate-Archiv weitere Informationen zu Clemens Brentano und seinem Gedicht „Am 19. Februar 1818 morgens unter den Linden“ zusammengestellt. Diese Dokumente könnten Dich interessieren.

Weitere Gedichte des Autors Clemens Brentano (Infos zum Autor)

Zum Autor Clemens Brentano sind auf abi-pur.de 297 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.