Die Geschlechter von Friedrich Schiller

Sieh in dem zarten Kind zwey liebliche Blumen vereinigt,
Jungfrau und Jüngling, sie deckt beyde die Knospe noch zu.
Leise löst sich das Band, es entzweyen sich zart die Naturen,
Und von der holden Schaam trennet sich feurig die Kraft.
Gönne dem Knaben zu spielen, in wilder Begierde zu toben,
Nur die gesättigte Kraft kehret zur Anmuth zurück.
Aus der Knospe beginnt die doppelte Blume zu streben,
Köstlich ist jede, doch stillt keine dein sehnendes Herz.
 
Reizende Fülle schwellt der Jungfrau blühende Glieder,
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Aber der Stolz bewacht streng wie der Gürtel den Reiz.
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Scheu wie das zitternde Reh, das ihr Horn durch die Wälder verfolget,
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Flieht sie im Mann nur den Feind, hasset noch, weil sie nicht liebt.
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Trotzig schauet und kühn aus finstern Wimpern der Jüngling,
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Und gehärtet zum Kampf spannet die Sehne sich an.
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Fern in der Speere Gewühl und auf die stäubende Rennbahn
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Ruft ihn der lockende Ruhm, reißt ihn der brausende Muth.
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Jetzo Natur beschütze dein Werk! Auseinander auf immer
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Fliehet, wenn Du nicht vereinst, feindlich, was ewig sich sucht.
 
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Aber da bist du, du mächtige schon, aus dem wildesten Streite
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Rufst du der Harmonie göttlichen Frieden hervor.
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Tief verstummet die lermende Jagd, des rauschenden Tages
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Tosen verhallet und leis sinken die Sterne herab.
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Seufzend flüstert im Winde das Rohr, sanft murmeln die Bäche,
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Und mit melodischem Lied füllt Philomela den Hayn.
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Was erreget zu Seufzern der Jungfrau steigenden Busen?
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Jüngling, was füllet den Blick schwellend mit Thränen dir an?
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Ach sie suchet umsonst, was sie sanft anschmiegend umfasse,
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Und die schwellende Frucht beuget zur Erde die Last.
 
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Ruhelos strebend verzehrt sich in eigenen Flammen der Jüngling,
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Ach, der brennenden Glut wehet kein lindernder Hauch.
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Siehe, da finden sie sich, es führet sie Amor zusammen,
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Und dem geflügelten Gott folgt der geflügelte Sieg.
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Gottliche Liebe, du bists die der Menschheit Blumen vereinigt,
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Ewig getrennt, sind sie doch ewig verbunden durch dich.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27 KB)

Details zum Gedicht „Die Geschlechter“

Anzahl Strophen
4
Anzahl Verse
34
Anzahl Wörter
315
Entstehungsjahr
1797
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Die Geschlechter“ wurde von Friedrich Schiller verfasst. Es lässt sich zeitlich in die Epoche der Klassik einordnen, da Schiller ein Vertreter dieser literarischen Strömung war und das Gedicht im späten 18. Jahrhundert veröffentlicht wurde.

Beim ersten Lesen des Gedichts fällt die harmonische und poetische Sprache auf. Die Verwendung von Metaphern und bildlichen Darstellungen erzeugt eine romantische Atmosphäre.

Inhaltlich beschreibt das lyrische Ich die verschiedenen Phasen und Eigenschaften der Geschlechter. Es beginnt mit der Darstellung eines Kindes, in dem sowohl weibliche als auch männliche Eigenschaften vereint sind. Doch im Laufe der Zeit entwickeln sich die beiden Naturen getrennt voneinander. Der Knabe wird in wilder Begierde zum Spielen und Toben animiert, während die Mädchen mit Scham und gesättigter Kraft in Anmut zurückkehren. So entfaltet sich die „doppelte Blume“ der Geschlechter, jedoch stillt keine von ihnen das sehnende Herz.

In der zweiten Strophe wird die blühende Fülle der Jungfrau betont, doch der Stolz und die Scheu verbieten es ihr, zu lieben. Der Jüngling hingegen schaut trotzig und kühn aus finstern Wimpern und ist bereit, zu kämpfen. Er wird von Ruhm und Mut angetrieben. Das lyrische Ich appelliert an die Natur, diese beiden gegensätzlichen Wesen auseinanderzuhalten, wenn sie nicht vereinen können und feindselig bleiben.

Die dritte Strophe beschreibt ein Treffen zwischen Mann und Frau inmitten des wilden Streits. Die Harmonie und der göttliche Frieden werden herbeigerufen, während die Jagd verstummt und die Sterne leise herabfallen. Die Sehnsucht der Jungfrau und die Tränen im Blick des Jünglings werden thematisiert. Sie suchen vergeblich nach etwas, das sie umfasst und die Last der erfüllten Frucht beugt sie zur Erde.

Die vierte und letzte Strophe zeigt den unruhigen und sich verzehrenden Jüngling, der keine lindernde Lösung für seine brennende Glut findet. Dann treffen sie sich plötzlich, geleitet von Amor, und dem geflügelten Gott folgt der geflügelte Sieg. Göttliche Liebe vereint die Menschen und obwohl sie ewig getrennt sind, sind sie doch ewig durch sie verbunden.

Die Form des Gedichts ist in vier Strophen gegliedert, die durchgehend reimgebunden sind. Jede Strophe hat eine unterschiedliche Anzahl von Versen. Die Sprache ist poetisch und bildhaft, was typisch für die Zeit der Klassik ist. Es werden viele Metaphern und Vergleiche verwendet, um die verschiedenen Aspekte der Geschlechter darzustellen. Insgesamt spiegelt das Gedicht die damalige Sichtweise von Mann und Frau wider und betont die Bedeutung von Liebe und Harmonie.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Die Geschlechter“ ist Friedrich Schiller. Schiller wurde im Jahr 1759 in Marbach am Neckar, Württemberg geboren. Das Gedicht ist im Jahr 1797 entstanden. Tübingen ist der Erscheinungsort des Textes. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zuordnen. Der Schriftsteller Schiller ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen.

Sturm und Drang ist die Bezeichnung für die Literaturepoche in den Jahren von etwa 1765 bis 1790 und wird häufig auch zeitgenössische Genieperiode oder Geniezeit genannt. Diese Bezeichnung entstand durch die Verherrlichung des Genies als Urbild des höheren Menschen und Künstlers. Die Epoche des Sturm und Drang knüpft an die Empfindsamkeit an und geht später in die Klassik über. Der Epoche des Sturm und Drang geht die Epoche der Aufklärung voran. Die Ideale und Ziele der Aufklärung wurden verworfen und es begann ein Rebellieren gegen die Prinzipien der Aufklärung und das gesellschaftliche System. Die Schriftsteller des Sturm und Drang waren zumeist junge Autoren, häufig unter 30 Jahre alt. Die Schriftsteller versuchten in den Dichtungen eine geeignete Sprache zu finden, um die persönlichen Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen. Es wurde eine eigene Jugendsprache und Jugendkultur mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Halbsätzen und Wiederholungen geschaffen. Die traditionellen Werke vorangegangener Epochen wurden geschätzt und dienten weiterhin als Inspiration. Mit dem Hinwenden Goethes und Schillers zur Weimarer Klassik endete der Sturm und Drang.

Die Weimarer Klassik war beeinflusst worden durch die Französische Revolution mit ihren Forderungen nach Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit. Der Kampf um eine Verfassung, die revolutionäre Diktatur unter Robespierre und der darauffolgende Bonapartismus führten zu den Grundstrukturen des 19. Jahrhundert (Nationalismus, Liberalismus und Imperialismus). Die Weimarer Klassik lässt sich zeitlich mit der Italienreise Goethes im Jahr 1786 und mit dem Tod Goethes 1832 eingrenzen. Das Zentrum der Literatur der Weimarer Klassik lag in Weimar. Oft wird die Epoche auch nur als Klassik bezeichnet. Humanität, Güte, Gerechtigkeit, Toleranz, Gewaltlosigkeit und Harmonie sind die essenziellen Themen. Die Klassik orientiert sich am antiken Kunstideal. In der Lyrik haben die Dichter auf Gestaltungs- und Stilmittel aus der Antike zurückgegriffen. Beispielsweise war so die streng an formale Kriterien gebundene Ode besonders populär. Darüber hinaus verwendeten die Dichter jener Zeit eine gehobene, pathetische Sprache. Schiller, Goethe, Wieland und Herder bildeten das „Viergestirn“ der Klassik. Es gab natürlich auch noch andere Autoren, die typische Werke veröffentlichten, doch niemand übertraf die Fülle und die Popularität dieser vier Autoren.

Das 315 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 34 Versen mit insgesamt 4 Strophen. Die Gedichte „An die Parzen“, „An die Sonne“ und „An einen Moralisten“ sind weitere Werke des Autors Friedrich Schiller. Zum Autor des Gedichtes „Die Geschlechter“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 220 Gedichte vor.

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