Als er über den Lauf der jezigen Welt sich beklagete von Johann Christian Günther

Wem die Welt von allen Seiten
Und der Lauf der lezten Zeiten
Täglich in die Augen fällt,
Diesem kan man nicht verdencken,
Wenn ihm Ärgernüß und Kräncken
Alles Lebens Lust vergällt.
 
Soll man ja die Warheit sagen,
Hat man in den Kindheitstagen
Freylich noch die göldne Zeit;
10 
Schlafen, Spielen, Scherz und Lachen
11 
Und kein Kummer toller Sachen
12 
Geben uns Zufriedenheit.
 
13 
Aber diese kurze Freude
14 
Wird hernach zu größerm Leide
15 
Und vergeht auch wie ein Traum;
16 
Denn so bald die Jugend blühet
17 
Und uns unter Umgang ziehet,
18 
Finden schon die Sorgen Raum.
 
19 
Last den Hochmuth hizig rennen
20 
Und nach hohem Range brennen
21 
Was gewinnt er? Furcht und Last.
22 
Unruh liegt im Ehrenbette,
23 
Und der Sorgen Sclavenkette
24 
Hält auch Fürsten oft umfast.
 
25 
Schäze, die man sich erschwizet,
26 
Bringen den, der sie besizet,
27 
Oft um manche gute Nacht;
28 
Lehnt man sie der Welt zum Besten,
29 
Wird man von des Undancks Gästen
30 
Noch mit Schaden ausgelacht.
 
31 
Täglich in Gesellschaft leben
32 
Heist sich auf ein Meer begeben,
33 
Wo ein steter Sturm regiert;
34 
Wer nur etwan halb geglitten,
35 
Wird beredt, verhöhnt, verschnidten,
36 
Ja wohl gröber abgeführt.
 
37 
Die uns vorwärts freundlich küßen,
38 
Reißen mit Verleumdungsbißen
39 
Heimlich unser Ehrenkleid;
40 
Schäzt und ehrt man uns vor andern,
41 
Muß man gleich auf Dörnern wandern,
42 
Die der Feind verdeckt gestreut.
 
43 
Auch die allerbesten Schwestern
44 
Schämen sich nicht, die zu lästern,
45 
Der sie sich sonst selbst vertraun;
46 
Mienen, Kleider und Gebehrden
47 
Müßen arme Sünder werden,
48 
Welchen viel den Richtplaz baun.
 
49 
Schweigt man still, so heist's gezwungen,
50 
Giebt man zu, so sind die Zungen
51 
Der Verleumder noch so scharf,
52 
Daß sie mehr zur Rache lügen,
53 
Bis wir Zanck und Händel kriegen,
54 
Die man auch nicht ahnden darf.
 
55 
Schonen uns auch fremde Gloßen,
56 
Geben gar die Hausgenoßen
57 
Unsern Feinden Zung und Wind,
58 
Bis die Lehrer eingenommen
59 
Und wir auf den Holzstoß kommen,
60 
Wo die Flüche Flammen sind.
 
61 
Wär auch alles zu verschmerzen,
62 
So ist dies ein Stein im Herzen,
63 
Daß auch ehrlich nicht mehr gilt;
64 
Hat man noch so treue Sinnen,
65 
Wird man doch nur Spott gewinnen,
66 
Wo man nicht wie andre schilt.
 
67 
Freunde, die uns Farbe halten,
68 
Schlafen längst mit unsern Alten
69 
Und sind jezo nur verstellt.
70 
Bey dergleichen eitlen Sachen
71 
Dürft ich fast den Ausspruch machen:
72 
Einsam oder von der Welt!
 
73 
Doch was einsam? Misgunstsblicke
74 
Schleichen sich mit Gift und Tücke
75 
In den tiefsten Winckel ein;
76 
Soll uns nun kein Neid entdecken,
77 
Muß man sich wohin verstecken?
78 
Unter einen Leichenstein.
 
79 
Sichre Freyheit vor dem Jammer,
80 
Holde Gruft, Vergnügungskammer,
81 
Sanftes Lager lezter Ruh!
82 
Deine Gegend bald zu füllen,
83 
Eilt mein Geist mit Lust im Stillen
84 
Schon in Hofnung freudig zu.
 
85 
Dieser Raum von wenig Ellen
86 
Schüzt mich vor den bösten Fällen,
87 
Die im Leben weh gethan;
88 
Hier verstummt des Neides Toben
89 
Und da fängt er an zu loben,
90 
Was er nicht mehr drücken kan.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (31.4 KB)

Details zum Gedicht „Als er über den Lauf der jezigen Welt sich beklagete“

Anzahl Strophen
15
Anzahl Verse
90
Anzahl Wörter
461
Entstehungsjahr
1695 - 1723
Epoche
Barock

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Als er über den Lauf der jezigen Welt sich beklagete“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Johann Christian Günther. 1695 wurde Günther in Striegau geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes liegt zwischen den Jahren 1711 und 1723. Eine Zuordnung des Gedichtes zur Epoche Barock kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Bei Günther handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche.

Die deutsche Literaturepoche des Barock beginnt circa 1600 und endet im Jahr 1720. Die wörtliche Übersetzung des portugiesischen Wortes „barocco“ lautet „schiefe Perle“. Der Dreißigjährige Krieg(1618–1648) gilt als das maßgebende Bezugselement des Barocks. Der Dreißigjährige Krieg hinterließ ein politisch, wirtschaftlich und kulturell verfallenes Deutsches Reich. Aufgrund der kriegerischen Auseinandersetzungen wurden ganze Landstriche entvölkert. So wurden Zerstörung, Gewalt und Tod zum Teil des Alltags der Menschen der damaligen Zeit. Hungersnöte und Seuchen, wie die Pest, verschlimmerten die bedrohliche Situation der Bevölkerung weiter. Allein der Ausbruch der Pest schmälerte die Bevölkerung um ein Drittel. Die Lyrik des Barocks ist im Wesentlichen von drei Leitmotiven (Memento mori, Vanitas, Carpe diem) beeinflusst, die die Lebenseinstellung der Menschen beschreiben. Vor dem geschichtlichen Hintergrund des Dreißigjährigen Krieges war das Leben der Menschen von Gewalt und Zerstörung beeinflusst. Alle diese Motive setzen sich auf unterschiedliche Art mit der weitverbreiteten Angst vor dem Tod und seinen Auswirkungen auseinander. In Deutschland führte der Barock zu einer Ablösung der lateinischen Sprache im Schriftwerk - einschließlich der wissenschaftlichen und philosophischen Literatur - durch die deutsche Sprache. Im Zeitalter des Barocks war der überwiegende Teil der Literatur Gelegenheitsdichtung. Man schrieb zur gehobenen Unterhaltung oder bei Hofe zur Huldigung der Fürsten. Für den wohlhabenden Bürger schrieben Lyriker zum Anlass von Taufen, Beerdigungen, Hochzeiten. Die Lyrik des Barocks wird deswegen auch Gesellschaftsdichtung genannt.

Das vorliegende Gedicht umfasst 461 Wörter. Es baut sich aus 15 Strophen auf und besteht aus 90 Versen. Weitere bekannte Gedichte des Autors Johann Christian Günther sind „Ich will lachen, ich will scherzen“, „Gedacht und auch geschehn. Ihr Pierinnen lacht“ und „Brich an, erfreutes Licht, las deine Freudenstunden“. Zum Autor des Gedichtes „Als er über den Lauf der jezigen Welt sich beklagete“ haben wir auf abi-pur.de weitere 264 Gedichte veröffentlicht.

+ Wie analysiere ich ein Gedicht?

Daten werden aufbereitet

Fertige Biographien und Interpretationen, Analysen oder Zusammenfassungen zu Werken des Autors Johann Christian Günther

Wir haben in unserem Hausaufgaben- und Referate-Archiv weitere Informationen zu Johann Christian Günther und seinem Gedicht „Als er über den Lauf der jezigen Welt sich beklagete“ zusammengestellt. Diese Dokumente könnten Dich interessieren.

Weitere Gedichte des Autors Johann Christian Günther (Infos zum Autor)

Zum Autor Johann Christian Günther sind auf abi-pur.de 264 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.