Die Feldheimen von Johann Gottfried Herder
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Menschen waren einst, so lehret Plato, |
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Gute Menschen waren einst die Heimchen, |
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Die ihr Tagewerk mit Fleiße trieben, |
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Kinder zeugten und den Acker bauten. |
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Bis mit ihren bösen Zaubertönen |
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Dreimal drei der Musen niederstiegen, |
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Und die Fluren mit Gesang erfüllten, |
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Und sogar die Vögel singen lehrten. |
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Ach da standen sprachlos und entzücket |
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Unsre fleißig-guten Ackerseelen; |
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Und vergaßen bey den süßen Tönen |
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Arbeit, Kinder, Speis und Trank und Schlummer. |
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Offnen Ohres, offnen Mundes hingen |
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Am Gesange der Göttinnen alle, |
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Wurden Amatoren, Virtuosen, |
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Famuli und Famulä der Musen. |
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Wenig Tage währete die Freude: |
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Und das Chor der horchenden Entzückten |
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Stand von Hunger, Durst und von Gesängen |
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Matt und welk und eingeschrumpft und sterbend. |
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Doch die Musen halfen ihren treuen |
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Märtyrern noch in den letzten Nöthen; |
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Süßen Todes führten sie die armen |
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Singend-sterbenden ins Land der Dichter. |
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Wo sie jetzt auf allen grünen Bäumen |
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Wie die Könige der Erde thronen, |
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Ohne Sorgen, ohne Müh und Arbeit, |
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Ohne Fleisch und Blut, den Göttern ähnlich. |
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Nun und nimmer drücket sie das Alter, |
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Nun und nimmer ängstet sie die Nahrung; |
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Trunken, von ein wenig Thaue trunken |
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Singen sie gehört und ungehöret. |
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Wie sie denn auch, also lehret Plato, |
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Ihren Musen treue Nachricht bringen, |
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Was hier dieser Knabe, jener Schäfer |
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Singt und sang und künftig singen werde. |
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Ach ihr süßen Landverwüsterinnen, |
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Steiget noch einmal vom Himmel nieder |
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Holde Musen, steigt herab und hemmet |
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Eurer ewgen Lieder ewge Wirkung. |
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Seht die Schaar der horchenden Entzückten, |
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Myriaden Sänger, Virtuosen, |
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Kunstliebhaber, Musen-Nachrichtgeber, |
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Reisende Kundschafter, Deklamanten. |
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Seht o sehet ihre Müh’ und Arbeit, |
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Ihren Hunger, ihre heiße Sanglust, |
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Wandelt sie! – Doch ach wozu die Wandlung? |
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Sie sind jezt schon wie die Heimchen selig. |
Details zum Gedicht „Die Feldheimen“
Johann Gottfried Herder
12
48
272
1787
Sturm & Drang,
Klassik
Gedicht-Analyse
Das Gedicht „Die Feldheimen“ wurde von Johann Gottfried Herder verfasst, einem deutschen Dichter, Übersetzer und Philosophen, der von 1744 bis 1803 lebte. Daher lässt es sich in die literarische Epoche der Aufklärung einordnen.
Beim ersten Lesen fällt auf, dass sich das Gedicht mit den Themen Musik, Arbeit und Vergänglichkeit auseinandersetzt. Es scheint einen Wechsel im Leben der Menschen von der Arbeit hin zur Hingabe an die Musik zu beschreiben, was sowohl Freude als auch Leid mit sich bringt.
Inhaltlich handelt das Gedicht von Menschen, die einst fleißig und produktiv waren, bis sie durch die Musik der Musen verzaubert wurden. Sie vergaßen ihre alltäglichen Pflichten und widmeten sich voll und ganz der Musik. Doch diese Hingabe hatte ihren Preis: Die Menschen wurden kraftlos und starben schließlich. Aber selbst im Tode fanden sie Trost in der Musik, und nun, befreit von irdischen Sorgen, singen sie ununterbrochen, ob gehört oder ungehört.
Das lyrische Ich im Gedicht scheint eine Warnung vor der Versuchung der Musik auszudrücken und die Musen dazu aufzufordern, ihre unendlichen Lieder zu unterbrechen, um die Menschen vor ihrem Untergang zu bewahren. Gleichzeitig zeigt es aber auch eine gewisse Bewunderung für die völlige Hingabe an die Kunst und sieht in den Menschen, die sich ihr verschrieben haben, eine Art Seligkeit.
Das Gedicht hat eine sehr klare formale Struktur mit jeweils vier Versen pro Strophe und über zwölf Strophen. Die Sprache ist annähernd gehoben und archaisch, wobei Plato als philosophischen Bezugspunkt verwendet wird, um die Geschichte zu legitimieren und Tiefe hinzuzufügen. Die Musik und die Musen haben eine starke symbolische Bedeutung, sie repräsentieren die Versuchung der Kunst und des Ästhetischen, die die Menschen von ihrer Pflicht ablenkt, aber auch zu spiritueller Befreiung führen kann. Der lyrische Ton schwankt dabei zwischen kritischem Verweis und bewundernder Anerkennung. Insgesamt zeigt das Gedicht ein zwiespältiges Verhältnis zur Musik als einerseits inspirierender, aber auch potenziell zerstörerischer Macht.
Weitere Informationen
Das Gedicht „Die Feldheimen“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Johann Gottfried Herder. Im Jahr 1744 wurde Herder in Mohrungen (Ostpreußen) geboren. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1787. Gotha ist der Erscheinungsort des Textes. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zuordnen. Der Schriftsteller Herder ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen.
Der Sturm und Drang (häufig auch Geniezeit oder Genieperiode genannt) ist eine literarische Epoche, welche zwischen 1765 und 1790 existierte und an die Empfindsamkeit anknüpfte. Später ging sie in die Klassik über. Die wesentlichen Merkmale des Sturm und Drang lassen sich als ein Rebellieren oder Auflehnen gegen die Aufklärung zusammenfassen. Das literarische und philosophische Leben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und die Literatur sollten dadurch maßgeblich beeinflusst werden. Die Vertreter des Sturm und Drang waren häufig junge Schriftsteller im Alter zwischen zwanzig und dreißig Jahren, die sich gegen die vorherrschende Strömung der Aufklärung wandten. In den Dichtungen wurde darauf geachtet eine geeignete Sprache zu finden, um die subjektiven Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen. Es wurde eine eigene Jugendsprache und Jugendkultur mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Halbsätzen und Wiederholungen geschaffen. Die traditionellen Werke vorangegangener Epochen wurden geschätzt und dienten als Inspiration. Die Epoche des Sturm und Drang endete mit der Hinwendung Schillers und Goethes zur Weimarer Klassik.
Zwei gegensätzliche Anschauungen hatten das 18. Jahrhundert bewegt: die Aufklärung und eine gefühlsbetonte Strömung, die durch den Sturm und Drang vertreten wurde. Die Weimarer Klassik ist eine Verschmelzung dieser beiden Elemente. Die Weimarer Klassik nahm ihren Anfang mit Goethes Italienreise im Jahr 1786 und endete mit Goethes Tod im Jahr 1832. Sowohl Klassik als auch Weimarer Klassik sind häufig verwendete Bezeichnungen für die Literaturepoche. Von zentraler Bedeutung für die Zeit der Klassik ist der Begriff Humanität. Toleranz, Menschlichkeit, Selbstbestimmung, Schönheit und Harmonie sind wichtige inhaltliche Merkmale der Klassik. Die Klassik orientierte sich an klassischen Vorbildern aus der Antike. Ein hohes Sprachniveau ist für die Werke der Klassik typisch. Während man in der Epoche des Sturm und Drangs die natürliche Sprache wiedergeben wollte, stößt man in der Klassik auf eine reglementierte Sprache. Goethe, Schiller, Wieland und Herder bildeten das „Viergestirn“ der Weimarer Klassik. Es gab natürlich auch noch andere Autoren, die typische Werke veröffentlichten, doch niemand übertraf die Fülle und die Popularität dieser vier Autoren.
Das 272 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 48 Versen mit insgesamt 12 Strophen. Die Gedichte „Das Kind der Sorge“, „Das Orakel“ und „Das Ross aus dem Berge“ sind weitere Werke des Autors Johann Gottfried Herder. Zum Autor des Gedichtes „Die Feldheimen“ haben wir auf abi-pur.de weitere 413 Gedichte veröffentlicht.
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