Psyche von Johann Gottfried Herder

schiffend mit Delphinen

Die silbernen Wellen des heil’gen Ibero,
Sie sahen Auroren, und strahlten ihr Bild.
Die schüchternen Nymphen im dunkeln Gebüsche,
Sie sahen Auroren, und schlüpften hinab.
 
Am Ufer erquickten sich sprießende Blumen
Im Schimmer der Göttin, und fühleten neu.
Die Vögel besangen mit Zungen der Harfe
Die Schönheit der Gottin, und – schwiegen verstummt.
 
Denn siehe, da wandelt ein Mädchen am Ufer;
10 
Der Mond und die Sterne, sie schieden hinweg;
11 
Die silbernen Wellen des heilgen Ibero
12 
Vergaßen Auroren und strahlten ihr Bild,
 
13 
Die räubrischen Augen, die lieblichen Bogen,
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Die Lilienfrische, den wimpernden Strahl;
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Die lieblichen Räuber, umschleiert mit Sorge,
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Im Nebel der Thränen den wimpernden Strahl.
 
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Sie setzte sich nieder ans horchende Ufer;
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Aurora verweilte, und hörte Gesang:
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»Ihr silbernen Wellen des heilgen Ibero,
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Ihr sehet mich weinen, ich weine zu euch.
 
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Ihr rauschet zu Ihm hin, ihr silbernen Wellen,
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Um den ich hier weine, der fern mir verweilt
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O! möcht’ er verweilen, nur nimmer vergessen
24 
Der Seele, die immer in Träumen ihn sieht.
 
25 
Geht zu ihm, ihr Wellen, und rauschet ihm frühe,
26 
Und rauschet ihm klagend, was hier ich euch sang.
27 
Erinnr’ ihn, Aurora, in warnenden Träumen,
28 
In lieblichen Träumen, und zeig ihm mein Bild.
 
29 
Ihr schüchternen Nymphen, die Kränze sich winden,
30 
Nehmt hin diese Blumen, und gebt ihm den Kranz,
31 
O! möcht’ er verweilen, nur nimmer vergessen
32 
Der Seele, die immer in Träumen ihn sieht.«
 
33 
Die Vögel besingend den lieblichen Morgen,
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Sie schwiegen und horchten und lernten das Lied.
35 
Die schüchternen Nymphen im dunkeln Gebüsche,
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Sie nahmen die Blumen und schlüpften hinweg.
 
37 
Aurora mitleidig nahm purpurne Nebel,
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Und bildete Träume, und bildet’ ihr Bild –
39 
Auf fuhr aus den Träumen der weilende Schäfer
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Und eilete zu ihr, und sank ihr ans Herz.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27 KB)

Details zum Gedicht „Psyche“

Anzahl Strophen
10
Anzahl Verse
40
Anzahl Wörter
282
Entstehungsjahr
1796
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Das präsentierte Gedicht „Psyche“ ist von Johann Gottfried Herder, einem einflussreichen Dichter, Philosophen und Theologen der deutschen Aufklärung und Sturm-und-Drang-Periode. Herder lebte von 1744 bis 1803 und gehört damit zur Epoche der späten Aufklärung und des Übergangs zu Frühromantik und Klassik.

Beim ersten Lesen des Gedichts drängt sich ein romantischer Ton auf, der durch die malerische Außensituation und die emotionsgeladene Darstellung der Protagonistin betont wird.

Das Gedicht erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die an den Ufern des heiligen Ibero sitzt, traurig und in Liebe zu einem fernen Mann versunken. Sie appelliert an die Natur um sie herum - das Flusswasser, den Morgen (Aurora), die Nymphen und die Vögel - ihr Bild und ihre Botschaft der Liebe und Sehnsucht an den Abwesenden zu übermitteln. Das Gedicht endet daraufhin glücklich, da der geliebte Mann aufwacht, zu ihr eilt und ihr in die Arme sinkt.

Formal besteht das Gedicht aus zehn Vierzeilern, was es zu einem relativ umfangreichen Gedicht macht. Es verwendet einen einfachen Sprachstil, der aber mit Metaphern und Symbolen angereichert ist und so eine inspirierende und dynamische Wirkung hat. Dinge wie silberne Wellen, schüchterne Nymphen und sprechende Blumen verleihen der Poesie einen märchenhaften und zauberhaften Anstrich.

In Bezug auf den Stil zeigt das Gedicht eine typisch romantische Naturverklärung und die Idealisierung von Gefühlen. Das lyrische Ich projiziert ihre eigenen Emotionen auf die natürliche Umgebung und gibt ihnen eine Stimme. So werden natürliche Phänomene zu aktiven Teilnehmern an ihrer Liebesgeschichte, was eine Art Anthropomorphismus darstellt und den Romantikern zugeschrieben wird.

Die Sprache des Gedichts ist eingängig und zeigt eine Mischung aus pastoraler und emotionaler Diktion, wobei der Romantik viele pastorale Elemente zugeschrieben werden. In Herders Gedicht tritt die Liebe als zentrales Motiv auf, aber auch das Motiv der Natur als reflektierende und intervenierende Kraft im menschlichen Leben.

Schlussendlich lässt sich sagen, dass „Psyche“ von Herder ein kraftvoller Ausdruck romantischer Liebe und Sehnsucht ist, verpackt in bezaubernder Natursymbolik und emotionaler Sprache. Es stellt den Menschen nicht losgelöst von der Natur dar, sondern verbindet sie eng miteinander - ein Merkmal, das für den Übergang zur Romantik charakteristisch ist.

Weitere Informationen

Johann Gottfried Herder ist der Autor des Gedichtes „Psyche“. 1744 wurde Herder in Mohrungen (Ostpreußen) geboren. 1796 ist das Gedicht entstanden. Der Erscheinungsort ist Neustrelitz. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Sturm & Drang oder Klassik kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Bei dem Schriftsteller Herder handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Der Sturm und Drang reicht zeitlich etwa von 1765 bis 1790. Sie ist eine Strömung innerhalb der Aufklärung (1720–1790) und überschneidet sich teilweise mit der Epoche der Empfindsamkeit (1740–1790) und ihren Merkmalen. Häufig wird die Epoche des Sturm und Drang auch als Geniezeit oder Genieperiode bezeichnet. Die Klassik knüpft an die Literaturepoche des Sturm und Drang an. Der Literaturepoche des Sturm und Drang geht die Epoche der Aufklärung voran. Die Ideale und Ziele der Aufklärung wurden verworfen und es begann ein Auflehnen gegen die Prinzipien der Aufklärung und das gesellschaftliche System. Bei den Vertretern der Epoche des Sturm und Drang handelte es sich vorwiegend um Schriftsteller jüngeren Alters. Die Schriftsteller versuchten in den Dichtungen eine geeignete Sprache zu finden, um die persönlichen Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen. Es wurde eine eigene Jugendsprache und Jugendkultur mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Halbsätzen und Wiederholungen geschaffen. Die traditionellen Werke vorangegangener Epochen wurden dennoch geschätzt und dienten als Inspiration. Mit seinen beiden bedeutenden Vertretern Goethe und Schiller entwickelte sich der Sturm und Drang weiter und ging in die Weimarer Klassik über.

Goethe (geboren am 28. August 1749 in Frankfurt am Main; verstorben am 22. März 1832 in Weimar) ist einer der bedeutendsten Dichter der Weimarer Klassik. Im Jahr 1786 unternahm Goethe eine Italienreise, diese wird heute als Beginn der Weimarer Klassik angesehen. Das Ende der Literaturepoche ist im Jahr 1832 auszumachen. Das Zentrum dieser Literaturepoche lag in Weimar. Es sind sowohl die Bezeichnungen Klassik als auch Weimarer Klassik gebräuchlich. Toleranz, Menschlichkeit und Übereinstimmung von Mensch und Natur, von Individuum und Gesellschaft sind die Ideale der Klassik. Im Zentrum des klassischen Kunstkonzepts steht das Streben nach harmonischem Ausgleich der Gegensätze. In der Gestaltung wurde das Wesentliche, Gültige, Gesetzmäßige sowie der Ausgleich und die Harmonie gesucht. Im Gegensatz zum Sturm und Drang, wo die Sprache oftmals roh und derb ist, bleibt die Sprache in der Weimarer Klassik den sich selbst gesetzten Regeln treu. Goethe, Schiller, Herder und Wieland können als die Hauptvertreter der Klassik bezeichnet werden. Aber nur Goethe und Schiller motivierten und inspirierten einander durch intensive Zusammenarbeit und gegenseitige Kritik.

Das Gedicht besteht aus 40 Versen mit insgesamt 10 Strophen und umfasst dabei 282 Worte. Der Dichter Johann Gottfried Herder ist auch der Autor für Gedichte wie „Apollo“, „Bilder und Träume“ und „Das Flüchtigste“. Zum Autor des Gedichtes „Psyche“ haben wir auf abi-pur.de weitere 413 Gedichte veröffentlicht.

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