Deutscher Abend von Kurt Tucholsky

Nun gönnt die Firma stillen Abendfrieden
dem Arbeitsmann, den Mädels, dem Kommis –
nun sitzt ganz Deutschland um den runden, lieben
gedeckten Tisch und sieht aufs Visavis.
 
Da liegt das Land: ganz schwarz und blau und dunkel.
Es klirrt der Wind im Telegraphendraht.
Ein gelbes Fenster grüßt dich mit Gefunkel:
hier spielt der Förster seinen Dauerskat.
 
Man hebt die Zeitung, läßt sie wieder sinken,
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die Welt, ihr Lieben, geht den alten Lauf –
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hieraufbezüglich kann man einen trinken,
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die Pfeife qualmt, nun steigt der Mond herauf.
 
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Und hundert Mimen spreizen ihre Glieder,
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und hundert Bürger füllen sich mit Bier …
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Und hundert Mädchen summen kleine Lieder,
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denn morgen, morgen muß er fort von hier.
 
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O Herr, so wie wir hinieden krauchen,
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so segne Land und Leute und Kompott.
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Verlaß dich drauf: wir könnens brauchen,
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wir könnens brauchen, lieber Gott!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (24.6 KB)

Details zum Gedicht „Deutscher Abend“

Anzahl Strophen
5
Anzahl Verse
20
Anzahl Wörter
136
Entstehungsjahr
1919
Epoche
Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit,
Exilliteratur

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Deutscher Abend“ wurde von Kurt Tucholsky verfasst, einem der bedeutendsten Publizisten und Satiriker der Weimarer Republik. Tucholsky war ein wichtiger Kritiker an den politischen und gesellschaftlichen Zuständen seiner Zeit. Er wurde 1890 geboren und starb 1935, daher kann dieses Gedicht in den Kontext der Zwischenkriegszeit in Deutschland eingebettet werden.

Auf den ersten Blick entwickelt das Gedicht eine gemütliche, fast idyllische Atmosphäre. Es beschreibt einen typisch deutschen Abend, mit Arbeitern, die von ihrem Tage ruhen, einem Land, das schwarz, blau und dunkel liegt, mit Fenstern, die warmes Licht ausstrahlen, und Menschen, die ihre Abendunterhaltung genießen.

Doch durch die Zeilen, betrachtet das lyrische Ich auf eine ironische und leicht sarkastische Weise das Leben und die monotonen täglichen Rituale der Arbeiter und Bürger. Der Hinweis auf das Lesen und anschließende Weglegen der Zeitung impliziert ein Desinteresse oder ein Gefühl der Resignation gegenüber der Welt jenseits des eigenen unmittelbaren Lebens. Der ständige Refrain, dass „wir es brauchen können, lieber Gott“, könnte als Forderung für Hilfe oder als ironische Feststellung gesehen werden, dass die Menschen mehr brauchen als ihren alltäglichen Trott, aber nicht die Mittel oder den Willen haben, danach zu suchen.

Formell ist das Gedicht sehr strukturiert. Es ist unterteilt in fünf identische Strophen von vier Versen, mit einem einfachen, klaren Reim. Die Sprache des Gedichts ist einfach und direkter Alltagssprache entlehnt. Diese Einfachheit und Struktur spiegelt das Ritual und die Routine wider, die das Gedicht beschreibt.

Insgesamt wirft „Deutscher Abend“ durch seine sarkastische Betrachtung des Alltagslebens, ein Licht auf die politische und gesellschaftliche Situation der Zeit, indem es auf die Frustrationen und begrenzten Horizonte der Arbeiter und Bürger hinweist. Es führt zu einer Reflexion über die Monotonie im Leben und zeigt die Notwendigkeit einer Veränderung. Kritik wird hier auf eine subtile, aber dennoch direkte Art und Weise geäußert. Tucholsky nimmt die Rolle eines gesellschaftlichen Beobachters ein und hält seinen Mitbürgern gleichzeitig einen Spiegel vor, der die Realität offenbart. Die skurrile Ironie von Tucholsky macht dieses Gedicht zu einer scharfen Gesellschaftskritik und einem Beispiel für die satirische Meisterschaft des Autors.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Deutscher Abend“ des Autors Kurt Tucholsky. 1890 wurde Tucholsky in Berlin geboren. Im Jahr 1919 ist das Gedicht entstanden. Der Erscheinungsort ist Charlottenburg. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text den Epochen Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit oder Exilliteratur zugeordnet werden. Der Schriftsteller Tucholsky ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen.

Wichtigen Einfluss auf die Literatur der Weimarer Republik nahmen der Erste Weltkrieg und die daraufhin folgende Entstehung der Weimarer Republik. Neue Sachlichkeit ist eine Richtung der Literatur der Weimarer Republik. In den ihr zugerechneten Werken ist die zwischen den Weltkriegen hervortretende Tendenz zu illusionslos-nüchterner Darstellung von Gesellschaft, Erotik, Technik und Weltwirtschaftskrise deutlich erkennbar. Dies kann man als Reaktion auf den literarischen Expressionismus werten. Die Dichter orientierten sich an der Realität. Die Handlung wurde meist nur kühl und distanziert beobachtet. Man schrieb ein Minimum an Sprache, dafür hatte diese ein Maximum an Bedeutung. Es sollten so viele Menschen wie möglich mit den Texten erreicht werden, deshalb wurde eine einfache sowie nüchterne Alltagssprache verwendet. Viele Schriftsteller litten unter der Zensur in der Weimarer Republik. Im Jahr 1922 wurde nach einem Attentat auf den Reichsaußenminister das Republikschutzgesetz erlassen, das die zunächst verfassungsmäßig garantierte Freiheit von Wort und Schrift in der Weimarer Republik deutlich einschränkte. Dieses Gesetz wurde in der Praxis nur gegen linke Autoren angewandt, nicht aber gegen rechte, die zum Beispiel in ihren Werken offen Gewalt verherrlichten. Das 1926 erlassene Schund- und Schmutzgesetz setze den Schriftstellern dieser Zeit noch mal verstärkt Grenzen. 1931 trat die Pressenotverordnung in Kraft, dadurch waren die Beschlagnahmung von Schriften und das Verbot von Zeitungen über mehrere Monate hinweg möglich geworden.

Im Laufe der Geschichte gab es immer wieder Schriftsteller, die ins Exil gehen, also ihr Heimatland verlassen mussten. Dies geschah insbesondere zu Zeiten des Nationalsozialismus. Die Exilliteratur geht aus diesem Umstand hervor. Der Ausgangspunkt der Exilbewegung Deutschlands war der Tag der Bücherverbrennung am 30. Mai 1933. Die Exilliteratur bildet eine eigene Epoche in der deutschen Literaturgeschichte. Sie schließt an die Neue Sachlichkeit der Weimarer Republik an. Die Themen der Exilliteratur Deutschlands lassen sich zunächst in zwei Gruppen einteilen. Einige Autoren fühlten sich in ihrer neuen Heimat nicht zu Hause, hatten Heimweh und wollten einfach in ihr altes Leben vor dem Nationalsozialismus zurückkehren. Oftmals konnten sie im Ausland nicht mehr ihrer Tätigkeit als Schriftsteller nachgehen, da sie nur in Deutsch schreiben konnten, was im Ausland niemand verstand. Heimweh und ihre Liebe zum Mutterland sind die thematischen Schwerpunkte in ihren Werken. Die anderen Schriftsteller wollten sich gegen Nazideutschland wehren. Man wollte zum einen die Welt über die Grausamkeiten in Deutschland aufklären. Zum anderen aber auch den Widerstand unterstützen. Anders als andere Epochen der Literatur, die zum Beispiel bei der formalen Gestaltung (also in Sachen Metrum, Reimschema oder dem Gebrauch bestimmter rhetorischer Mittel) ganz charakteristische Merkmale aufweisen, ist die Exilliteratur nicht durch bestimmte formale Merkmale gekennzeichnet. Die Exilliteratur weist häufig einen Pluralismus der Stile (Expressionismus, Realismus), eine kritische Betrachtung der Wirklichkeit und eine Distanz zwischen Werk und Leser oder Publikum auf. Sie hat häufig die Absicht zur Aufklärung und möchte Gesellschaftsentwicklungen aufzeigen (wandelnder Mensch, Abhängigkeit von der Gesellschaft).

Das 136 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 20 Versen mit insgesamt 5 Strophen. Der Dichter Kurt Tucholsky ist auch der Autor für Gedichte wie „All people on board!“, „Also wat nu – ja oder ja?“ und „An Lukianos“. Zum Autor des Gedichtes „Deutscher Abend“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 136 Gedichte vor.

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