Der wilde Mann, die weiche Mann, das Vielemann von Joachim Ringelnatz

Auf! Laßt uns irgend jemanden erschlagen!
Sie fragen: Wen?
Wie feig schon, überhaupt zu fragen.
Halt irgend wen, den oder den.
 
So irgend jemand mitten aus der Mitte
Urplötzlich töten, hei, wie das belebt!
Weil’s Aufsehn macht.
Denn Töten ist nicht Sitte,
Sondern ein Sport, vor dem die Mehrheit bebt.
 
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Nicht solche töten, die uns Grund gegeben,
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Noch etwa Greise oder Weib und Kind,
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Auch laßt uns Töter gegenseitig leben,
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Weil wir doch schließlich keine Henker sind.
 
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Was über achtzig Jahr und unter zehn
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Jahr ist, sind faule, unbrauchbare Drohnen.
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Den andern aber muß man zugestehn,
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Daß sie was leisten, und die laßt uns schonen.
 
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2.
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Auf! Laßt uns all mitnander Ei-ei machen!
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Auf! Fistet Pazi und seid friedlich froh!
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Verklebt aus Liebe unter heitrem Lachen
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Mit Bruderkuß den feindlichen Popo.
 
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Krieg, Haß und Neid und alle widrigen
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Gefühle fort! Dem Herzen gebt Gehör!
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Wir wollen uns freiwillig selbst erniedrigen.
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Und wer uns anspeit, sei uns Parfumeur.
 
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Ein Reich zu gründen und dafür zu werben
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Gilt es, das uns ganz und gar dem Himmel gleicht.
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Seid überzeugt: Wir werden drüber sterben.
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Doch, wenn wir leben blieben, wär’s erreicht.
 
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3.
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Warum denn immer alles übertreiben?
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Warum denn links? Warum denn rechts?
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Um Gottes willen, laßt uns mäßig bleiben,
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Nicht männlichen, nicht weiblichen Geschlechts.
 
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Hübsch angepaßt und jede Reibung meiden!
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Nicht hart, nicht weich! Nicht Ja, nicht Nein!
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Auf alles hören und sich nie entscheiden.
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Wer weiß, wie’s kommt. Man muß gewappnet sein.
 
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Denn golden ist der goldne Weg der Mitte.
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Man ißt und zeugt und schläft schön ungestört,
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Regt sich nicht auf um „danke“ oder „bitte“
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Und weiß und lebt und stirbt, wie sich’s gehört.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.5 KB)

Details zum Gedicht „Der wilde Mann, die weiche Mann, das Vielemann“

Anzahl Strophen
10
Anzahl Verse
43
Anzahl Wörter
276
Entstehungsjahr
1928
Epoche
Moderne,
Expressionismus

Gedicht-Analyse

Der Autor des vorliegenden Gedichts ist Joachim Ringelnatz, ein deutscher Schriftsteller und Kabarettist, bekannt für seine humorvolle und teils absurde Lyrik. Da der Autor von 1883 bis 1934 lebte, lassen sich seine Werke der literarischen Epoche der Moderne zuordnen, die von etwa 1890 bis 1945 andauerte.

Auf den ersten Blick wirkt das vorgestellte Gedicht äußerst kontrovers. Es ruft zu extremen Handlungen auf und scheint die gesellschaftlichen Normen und Werte zu hinterfragen.

Inhaltlich setzt sich das Gedicht mit drei verschiedenen Perspektiven und Lebenshaltungen auseinander, nämlich Gewalt und Aggression, passiver Liebe und Friedfertigkeit und schließlich Anpassung und Mittelmäßigkeit. Dabei lässt das lyrische Ich zwar provokante Aussagen fallen, diese dienen aber wohl eher als satirische Kritik denn als ernstgemeinte Anweisungen. Die Absurdität der Aussagen könnte dabei als eine Aufforderung verstanden werden, die Extreme zu vermeiden und einen ausgewogenen Weg zu finden. Aber auch eine Kritik an der Gesellschaft und ihren oft widersprüchlichen und überzogenen Normen und Erwartungen scheint mitschwingen.

Form und Sprache des Gedichts sind eher einfach und unkompliziert gehalten, was den satirischen Charakter des Werks verstärkt. Das Gedicht besteht aus 10 Strophen mit variierender Versanzahl, was auf eine freie Form schließen lässt. Die direkte Ansprache „Auf! Laßt uns...“ impliziert eine starke Aufforderung und zieht den Leser unmittelbar ins Geschehen hinein. Das sprachliche Niveau bleibt einfach, ohne viele sprachliche Bilder oder Metaphern, was in schrillem Kontrast zu den extremen Aussagen des lyrischen Ichs steht.

Insgesamt deutet die provokative Natur des Gedichts und seine satirische Darstellung gesellschaftlicher Normen und Erwartungen darauf hin, dass Ringelnatz sich kritisch mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten seiner Zeit auseinandersetzt und den Leser dazu aufruft, diese zu hinterfragen.

Weitere Informationen

Joachim Ringelnatz ist der Autor des Gedichtes „Der wilde Mann, die weiche Mann, das Vielemann“. Im Jahr 1883 wurde Ringelnatz in Wurzen geboren. Das Gedicht ist im Jahr 1928 entstanden. Der Erscheinungsort ist Berlin. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zu den Epochen Moderne oder Expressionismus zu. Ringelnatz ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen. Das vorliegende Gedicht umfasst 276 Wörter. Es baut sich aus 10 Strophen auf und besteht aus 43 Versen. Joachim Ringelnatz ist auch der Autor für Gedichte wie „7. August 1929“, „Abendgebet einer erkälteten Negerin“ und „Abermals in Zwickau“. Zum Autor des Gedichtes „Der wilde Mann, die weiche Mann, das Vielemann“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 560 Gedichte vor.

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