Der tote Ton von Richard Dehmel

Ton von Glocken. Droh’n von Glocken. Wo nur? Weh.
ich falle!
Wohin wollten doch die stummen, grauen Mönche alle?–
Um mein dunkles Gitter seh ich Nachtgespenster jagen,
und da vor mir, nur zwei Schritte, rollt ein schwarzer Wagen.
Ringsum glimmt die Luft von Kreuzen, und die Fackeln bluten,
und man führt mich an den Armen – ach dies weiche Fluten!
Von alleine gehen meine qualgelähmten Beine,
ach so schön geführt; ich kenne keine Straße, keine;
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gehe flutend wie im Traume, ohne Sinn und Willen,
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nur im Kopfe, nur im Herzen fühl’ich etwas wühlen.
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Etwas prüft da seine Krallen, scharfe, krumme Krallen,
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und die Raben klagen drüben, und die Glocken hallen.
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Ach, ich höre ferne Chöre – ei so lieb, so liebe;
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nur in meinen Augen brennt was, oh so trüb, so trübe.
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Und es rieselt etwas Kaltes über meine Mienen,
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alle Menschen stieren her, und – Keiner naht von ihnen;
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etwas muß in diesen Mienen herrschen, daß sie graut – ja!
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und es rieselt etwas Kaltes über meine Haut da.
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Und vier Rappen ziehn den Wagen, trauerflorumflossen,
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aber mich zieht eine Hand, die hält mich starr umschlossen.
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Großer Gott, der Sarg, der Sarg da – kommt wol auf
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mich los da?!
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Da im Sarge, ja im Sarge liegt mein Daseinsloos – ja...
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Wofür schlugst du mich so tückisch, Du, den „Gott“ sie schelten?
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wo-für? wo-für? aach!
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Du, der Herr der Kreaturen, Herr der Sternenwelten,
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Mich zerbrachst du! Schmach!
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Du ein Gott? Wo denn, sage?!
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Stöhnst wol im Gedröhn der Glocken, in der Rabenklage?
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Tritt doch her hier, grinsend, prahlend, mit dem Hohn im Blicke,
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Du – Scheusal der Nacht!
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Bin doch größer, ich mit meinem großen Gramgeschicke,
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als du Gott der Macht!
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du Giftgott!
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du Giftgott! –
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Ja: so stöhnen hohl die Glocken ...
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Jessus-Maria,
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thut so drohn, der tote Ton!
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der Ton! – der Ton! – –
 
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Heilig in der weißen Seide
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träumt sie, still und schwer,
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bleich gekreuzt die Hände beide –
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nein, du träumst nicht mehr!
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Fühlst nicht mehr den Duft des bittern
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Myrtenkranzes, nicht,
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nie mehr meine Lippen zittern,
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küss’ich dein Gesicht.
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Hörst mich fahl Gespenst nicht schreiten
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durch die hohle Luft,
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weißt nicht, daß wir dich begleiten
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in die dumpfe Gruft.
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Und dich in den Sarg zu legen,
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dazu liebt’ich dich?
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dazu deiner Mutter Segen?
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drum gebar sie dich?!
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Das mein Brautbett? und ich klage
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und ich lebe noch?
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Gott, nach solchem, solchem Tage,
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Gott, was soll ich noch?! –
 
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Oh wie war sie süß und milde:
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wie ein Liebeslied,
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wie durch dämmernde Gefilde
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fern ein Engel zieht.
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Keine Sünde gab es, keine,
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wenn ich an ihr hing
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und von ihrem Mund das reine
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Sakrament empfing.
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Ja, sie war mein guter Wille,
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und sie liebte mich!
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Ihrer Seele große, stille
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Flamme führte mich,
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führte mich – wohin? o Jammer:
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oh, durch Himmelsluft
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in den Abgrund, in die Kammer
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deiner kalten Gruft!
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Das mein Brautbett? und ich klage
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und ich lebe noch?
79 
Gott, nach solchem, solchem Tage,
80 
Gott, was soll ich noch?! – –
 
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Und nun heben sie den Sarg und – woll’n sie mir wol
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nehmen?!
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Was, Gewalt? sie woll’n mich halten?! Hahahah, ihr Memmen!
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Hahahah, ihr tollen Hunde! Laßt mich los! ich rase!
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ich bin jung! ich habe Fäuste! ich bin stark! Ich blase
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euch zu Staub, ihr mürben Spinnen! Weg da, feile Menge:
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Meinem königlichen Gram ist eure Brust zu enge!
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Nur ein König darf mein Kleinod reißen mir vom Herzen!
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Und sie weichen... Aber ich, ich großer Fürst der Schmerzen,
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wandle durch das dumpfe Staunen – und die Glocken drohn so!
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und nun steh ich vor dem Sarge, steh vor meinem Thron – Hoh:
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wozu hockst du, Totengräber, da mit deinem Spaten?
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wieviel kostet wol solch König, Bruder, zu bestatten?
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Ja, begrabt mich! aber tief, tief! mir wird schlecht – wer
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hält mich!
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Schwerer als der Sand da unten drückt hier diese Welt mich...
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Weg den Wedel! Kein geweihtes Wasser soll sie schänden;
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ich allein, mit meinen Thränen, darf die Weihe spenden,
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Ich, ihr Hoherpriester! Wehe –: aus dem Mönchtalare
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schiebt sich eine seltsam lange, eine seltsam klare
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Hand, – sie zieht mich in die Kniee, naht mir, – weh, ich falle,
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eine Sense saust – – ich stürzte. Und sie kamen Alle,
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und sie brachten mich hierher, ach! Ach, aus ein paar Funken
104 
Glück ein Brand von Pein!
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Welt, du Tollhaus! wozu bist du? Welt, du Pestspelunke!
106 
Bist du denn? Nein! nein!
107 
Mein Herz ist,
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was du bist!
109 
Hier mein klopfend Herz dein Klöppel, du die hohle Glocke!
110 
Wollt ich’s werden? heh, wer hing mich in die hohle Glocke?
111 
Gott, bat ich dich, heh?
112 
Bin in meinen Daseinsketten doch kein Knecht am Blocke?!
113 
Ich bin frei! ich geh!
114 
du Giftgott,
115 
du Giftgott! –
116 
Ja, so stöhnen hohl die Glocken...
117 
Jessus-Maria,
118 
thut so drohn, der tote Ton!
119 
der Ton... der Ton...

Details zum Gedicht „Der tote Ton“

Anzahl Strophen
4
Anzahl Verse
119
Anzahl Wörter
779
Entstehungsjahr
1893
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Der tote Ton“ wurde von Richard Dehmel verfasst, der vom 18. November 1863 bis zum 8. Februar 1920 lebte. Damit handelt es sich um einen Vertreter der Literatur des Naturalismus und der Jahrhundertwende.

Auf den ersten Blick wirkt das Gedicht düster und beklemmend. Geprägt von traurigen, teils angstvollen und trotzig-rebellischen Tönen, gibt es Einblicke in tiefe menschliche Verzweiflung und Trauer.

Inhaltlich geht es in dem Gedicht um den Tod, genauer gesagt den Verlust eines nahestehenden Menschen. Das lyrische Ich ist in seiner tiefen Trauer gefangen und wird von Verzweiflung und Wut übermannt. Dieses empfindet den Tod als ungerecht und bezeichnet Gott als „Giftgott“, was seine Rebellion und Anklage gegen das Schicksal und den Tod verdeutlicht. Es wird ein intensiver seelischer Schmerz dargestellt, der das lyrische Ich zu konfrontativen Fragen und Anklagen gegen Gott führt.

Formal besteht das Gedicht aus vier langen Strophen. Der Versbau wechselt, es gibt keine festen Reimstrukturen und die Verslänge variiert von Zeile zu Zeile. Dies kann als Ausdruck der inneren Zerrissenheit und des Chaos gedeutet werden, das das lyrische Ich nach dem Tod der geliebten Person durchlebt.

Die Sprache des Gedichts ist intensiv und eindringlich. Sie ist geprägt von bildlichen Beschreibungen, die die düstere und beklemmende Stimmung hervorrufen. Der wiederkehrende Klang von Glocken, der „tote Ton“, durchzieht das Gedicht und bildet ein Leitmotiv, welches den Leser immer wieder an die Konfrontation mit dem Tod erinnert.

„Der tote Ton“ von Richard Dehmel zeigt ein persönliches und emotionales Porträt der Trauer. Es legt Zeugnis von der schmerzhaften Auseinandersetzung mit dem Tod und den Fragen, die dieser aufwirft, ab. Das lyrische Ich erfährt dabei eine emotionale Odyssee, die von Trauer und Verzweiflung über Rebellion bis hin zur Resignation reicht.

Weitere Informationen

Richard Dehmel ist der Autor des Gedichtes „Der tote Ton“. Geboren wurde Dehmel im Jahr 1863 in Wendisch-Hermsdorf, Mark Brandenburg. 1893 ist das Gedicht entstanden. München ist der Erscheinungsort des Textes. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text der Epoche Moderne zugeordnet werden. Bei Dehmel handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das 779 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 119 Versen mit insgesamt 4 Strophen. Weitere bekannte Gedichte des Autors Richard Dehmel sind „Chinesisches Trinklied“, „Dann“ und „Das Gesicht“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Der tote Ton“ weitere 522 Gedichte vor.

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