Er und Sie von Johann Gottfried Herder

Ein freundschaftliches Haus- und Ehegespräch.
Schottisch.
 
Er.
 
Das Winterwetter wird schon kalt,
Und Schnee da ob'n auf 'n Bergen liegt,
Und Nordwind saust, daß es widerhallt,
Und Jeder gern ins Warme kriecht.
Bell, mein Weib, ist ein gutes Weib;
Sie merkt, es soll an ein'n Rock hergehn.
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Da kommt sie und spricht von ihrer Kuh,
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Und »Mann, zieh 'n alten Rock noch an!«
 
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O Bell, was treibst und quälst mich so?
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Du weißt, mein Rock ist herzlich dünn,
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Er ist so kahl und abgetrag'n,
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Kein Floh kann mehr sich wärmen drin,
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Und borgen mag ich nicht länger und leihn.
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Ich will 'nmal ein'n guten Rock anhan,
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Will morgen zur Stadt und was spendirn
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Und schaff'n ein'n neuen Rock mir an.
 
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Sie.
 
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Ab'r unsre Kuh ist 'ne gute Kuh,
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Ein'n wackern Kübel Milch sie giebt,
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Und hat uns bisher so wohl versorgt
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Mit Butt'r und Käs', wie das Herz sie liebt.
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Das arme Thier, stieß ihm was zu
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Hör' meinen Rath an, lieber Mann:
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Für uns ist's nicht, so vornehm gehn;
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Behalt Dein'n alten Graurock an!
 
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Er.
 
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Mein Rock war einmal ein guter Rock,
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Konnt' ihn üb'rall anziehn ohn' Gefahr,
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Ab'r nun ist er keinen Groschen werth;
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Ich hatt' ihn ja auch vierundvierzig Jahr.
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Einmal hatt' er Farb' und war dicht und warm,
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Anjetzt die Sonn' ihn durchscheinen kann,
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Er ist nicht für Regen und nicht für'n Wind:
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Ich muß ein'n neuen Rock anhan.
 
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Sie.
 
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Mann, es ist vierundvierzig Jahr,
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Seit wir uns 's erste Mal gesehn,
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Und haben in die Welt gebracht
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Von Kindern neun Stück oder zehn,
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Sie aufgebracht zu Mann und Weib,
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Sie christlich erzogen, lieber Mann.
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Was willst Du denn nu so jung noch thun?
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Zieh lieber Dein'n alten Rock noch an!
 
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Er.
 
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O Bell, mein Weib, was quälst mich so?
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Nu ist nune, und dann war dann.
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Geh jetzt und guck in die weite Welt,
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Kennst nicht mehr Bau'r und Edelmann;
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Sie gehn Alle schwarz, gelb, grün und blau,
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Jetzt ist ein Jeder ein vornehm' Mann.
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Einmal im Leb'n will ich thun wie sie
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Und schaff'n ein'n neuen Rock mir an.
 
56 
Sie.
 
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König Stephan war ein wackrer Herr,
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Für sein Hosen gab er eine Kron';
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Sechs Pfennig mehr war zu theuer ihm,
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Und mitgerechnet schon Schneiderlohn.
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Und 's war ein König von großer Macht,
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Und Du ja nur ein armer Mann.
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Die Pracht bringt 'nunter Land und Leute.
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Ich rath' Dir, Mann, zieh den alten an!
 
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Er.
 
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Bell, mein Weib, ist ein gutes Weib,
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Sie zankt nicht, aber sie räth mir gern;
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Und oft denn nu, um in Ruh zu leb'n,
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Geb' ich ihr denn so nach von fern.
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Sein Weib zu prügeln, schickt sich nicht,
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Das thut kein alter rechtschaffner Mann;
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Drum lass' ich's bleiben, wo ich's fand,
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Und zieh' mein'n alten Graurock an.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (29.9 KB)

Details zum Gedicht „Er und Sie“

Anzahl Strophen
16
Anzahl Verse
73
Anzahl Wörter
459
Entstehungsjahr
1744 - 1803
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

„Er und Sie“ ist ein Gedicht von Johann Gottfried Herder, einem der prominentesten Dichter des Sturm und Drang und der Aufklärung in Deutschland. Herder lebte von 1744 bis 1803, das bedeutet, dieses Gedicht könnte irgendeinmal im späten 18. oder frühen 19. Jahrhundert geschrieben worden sein.

Auf den ersten Blick ist dieses Gedicht aus der Perspektive von zwei Charakteren geschrieben - dem 'Er' und dem 'Sie'. Es scheint zu einem einfachen, alltäglichen Thema - der männliche Charakter benötigt einen neuen Mantel, während seine Frau darauf besteht, dass sie es sich nicht leisten können und ihm somit rät, seinen alten Mantel anzuziehen.

Zwischen den beiden besteht eine intensive Dialogsituation, in der der Mann seine Unzufriedenheit über seinen alten Rock ausdrückt, während die Frau versucht, ihm die finanziellen Bedenken zu erläutern. Der Mann fühlt sich unwohl und heruntergekommen in seinem alten Rock, während die Frau darauf beharrt, dass sie keinen neuen Rock benötigen.

Hinsichtlich der Form und der Sprache des Gedichts handelt es sich um eine Art volkstümliches Lied oder Ballade, das im Dialekt verfasst ist. Die Struktur ist wiederkehrend, mit abwechselnden Strophen, die die Perspektiven des Mannes und der Frau darstellen. Die rhythmische Struktur der Verse spiegelt das vernünftige und dennoch leidenschaftliche Geplänkel zwischen den beiden wider.

In Bezug auf die Sprache ist das Gedicht in einer sehr einfachen, leicht verständlichen Sprache gehalten. Aber trotz seiner Simplizität hat es eine tiefe Botschaft in Bezug auf die soziale Schichtung, Armut und die Banalitäten des Alltagslebens.

Insgesamt gibt das Gedicht einen Einblick in das Leben einer älteren Ehepaar, die in einfachen Verhältnissen leben. Es zeigt, wie materielle Besitztümer nicht die Quelle des Glücks sind, sondern wie Harmonie und Liebe in einer Beziehung viel wichtiger sein können. Diese Zeitlosigkeit der Themen in Herders Gedicht macht es auch heute noch relevant und ansprechend.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Er und Sie“ des Autors Johann Gottfried Herder. 1744 wurde Herder in Mohrungen (Ostpreußen) geboren. Zwischen den Jahren 1760 und 1803 ist das Gedicht entstanden. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zuordnen. Bei dem Schriftsteller Herder handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Sturm und Drang ist die Bezeichnung für die Literaturepoche in den Jahren von etwa 1765 bis 1790 und wird häufig auch zeitgenössische Genieperiode oder Geniezeit genannt. Diese Bezeichnung entstand durch die Verherrlichung des Genies als Urbild des höheren Menschen und Künstlers. Die Epoche des Sturm und Drang knüpft an die Empfindsamkeit an und geht später in die Klassik über. Die Epoche des Sturm und Drang war die Phase der Rebellion junger deutscher Autoren, die sich gegen die Prinzipien der Aufklärung und das gesellschaftliche System wendeten. Die Vertreter der Epoche des Sturm und Drang waren häufig junge Schriftsteller im Alter zwischen zwanzig und dreißig Jahren, die sich gegen die vorherrschende Strömung der Aufklärung wandten. Um die persönlichen Empfindungen des lyrischen Ichs zum Vorschein zu bringen, wurde im Besonderen darauf geachtet eine geeignete Sprache zu finden und in den Gedichten einzusetzen. Die traditionellen Werke vorheriger Epochen wurden geschätzt und dienten als Inspiration. Aber dennoch wurde eine eigene Jugendsprache und Jugendkultur mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Halbsätzen und Wiederholungen geschaffen. Mit seinen beiden bedeutenden Vertretern Goethe und Schiller entwickelte sich der Sturm und Drang weiter und ging in die Weimarer Klassik über.

Die Literaturepoche der Klassik beginnt nach heutiger Auffassung mit der Italienreise Goethes, die er 1786 im Alter von 36 Jahren machte. Das Ende der Epoche wird auf 1832 datiert. In der Klassik wurde die Literatur durch Einflüsse der Französischen Revolution, die ziemlich zu Beginn der Epoche stattfand, entscheidend geprägt. In der Französischen Revolution setzten sich die Menschen dafür ein, dass für alle die gleichen Rechte gelten sollten. Wie der Name bereits verrät, liegen der Ausgangspunkt und das literarische Zentrum der Weimarer Klassik, die auch kurz Klassik genannt wird, in Weimar. Teilweise wird auch Jena als ein weiteres Zentrum dieser Literaturepoche angesehen. Die Dichter der Klassik wollten die antiken Stoffe aufleben lassen. Mit der antiken Kunst beschäftigte sich Goethe während seiner Italienreise. Die Antike gilt nun als Ideal, um Harmonie und Vollkommenheit zu erreichen. Ein hohes Sprachniveau ist für die Werke der Klassik typisch. Während man im Sturm und Drang die natürliche Sprache wiedergeben wollte, stößt man in der Klassik auf eine reglementierte Sprache. Goethe, Schiller, Herder und Wieland bildeten das „Viergestirn“ der Weimarer Klassik. Es gab natürlich auch noch weitere Autoren, die typische Werke veröffentlichten, doch niemand übertraf die Fülle und die Popularität dieser vier Autoren.

Das 459 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 73 Versen mit insgesamt 16 Strophen. Die Gedichte „An die Freundschaft“, „Apollo“ und „Bilder und Träume“ sind weitere Werke des Autors Johann Gottfried Herder. Zum Autor des Gedichtes „Er und Sie“ haben wir auf abi-pur.de weitere 413 Gedichte veröffentlicht.

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