Bitten von Johann Gottfried Herder

Allmächt'ge Güte, Vater aller Wesen,
Du Herz, das sich in jedem Herzen reget,
Du Mutterhand, die Alles hebt und träget
Und mich, auch mich zu Deinem Kind erlesen:
 
Ich knie vor Dir als Kind in stiller Demuth;
Du siehst ja innig, was ich will und denke,
Du lenkest selbst mein Herz, wenn ich es lenke,
Und giebst mir selbst die Thräne süßer Wehmuth.
 
Mein tiefstes Dasein ist vor Dir enthüllet,
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Mein Lebensbuch ist vor Dir aufgeschlagen,
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Und manche Wünsche, die stumm in mir lagen,
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Eh ich sie wagete, hast Du erfüllet.
 
13 
Was kann ich Dir, als was ich ganz bin, geben?
14 
Denn, Freund, Du gabst mir, was ich bin und habe:
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Mein Wunsch, Dir treu zu sein, ist Deine Gabe,
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Mein Licht ist Dein, mein Trost und all mein Leben.
 
17 
Ach, wär' ich, wozu mich Dein Blick bestimmte,
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Was sein zu sollen tief ich in mir fühle!
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Ich irre noch, ich irre fern vom Ziele,
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Und mancher Funk' erlosch, der in mir glimmte.
 
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Freund meines Lebens, reiche Deine Hände!
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O sei mir selbst der Führer, der mich leite,
23 
Der Trieb, die Stimme, die mich stets begleite
24 
Und meine Fehler selbst zum Guten wende!
 
25 
Nie will ich thöricht Dir mein Herz verhüllen,
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Nie tobend kühn die Wahrheit von mir scheuchen.
27 
Wenn Alles weicht, sollst Du nicht von mir weichen;
28 
Denn Du nur kannst und wirst mein Herz erfüllen.
 
29 
Du liebest mich und hast mich stets geliebet;
30 
Denn Dein sind meiner Jugend frohe Zeiten.
31 
Du wirst mich lieben, in die Ewigkeiten
32 
Mich lieben, Herr, wie oft ich Dich betrübet.
 
33 
Gieb mir auf meinem kurzen Lebenswege
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Nur täglich reine Dankbarkeit und Freude,
35 
Und frohen Muth, wenn ich unschuldig leide,
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Und neuen Muth zu jedem rauhen Stege,
 
37 
Und Glaub' und Lieb', die Alles überwinden,
38 
Und meiner ew'gen Hoffnung neue Flügel!
39 
Ich klimme ab und auf den Lebenshügel,
40 
Wo Dich, o Herr, wo mich ich werde finden.
 
41 
Und was ich mir, erfleh' ich auch den Meinen,
42 
Die nah und ferne, Herr, wie ich, hintreten,
43 
An Deine Knie sich schließen, in Gott beten;
44 
Erhör uns, Herr! wir sind, wir sind die Deinen!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.3 KB)

Details zum Gedicht „Bitten“

Anzahl Strophen
11
Anzahl Verse
44
Anzahl Wörter
346
Entstehungsjahr
1744 - 1803
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Bitten“ wurde von Johann Gottfried Herder während der Epoche der Aufklärung verfasst. Herder war eine zentrale Figur dieser Zeit und trug mit seinen Werken maßgeblich zur Prägung der Literatur und Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts bei.

Auf den ersten Blick wirkt das Gedicht wie ein Gebet, voller Demut und Hingabe an eine höhere Macht, symbolisiert durch Begriffe wie „Allmächt'ge Güte“ und „Vater aller Wesen“.

Im Gedicht drückt das lyrische Ich seine tiefe Zuneigung und Ehrfurcht zu Gott aus, wobei es Gott nicht nur als eine übernatürliche Figur, sondern auch als eine Quelle der Liebe, der Führung und der Tröstung betrachtet. Es erkennt an, dass sein Leben, seine Gedanken und Emotionen nicht verborgen sind vor Gott, der es durch seinen Weg leitet und ihm insbesondere in Zeiten des Leids beisteht. Das lyrische Ich bittet um Beständigkeit in seinem Glauben und seiner Liebe zu Gott und um die Kraft, Schwierigkeiten und Prüfungen zu überwinden. Es erkennt auch seine Unvollkommenheit an und bittet darum, dass seine Fehler zum Guten umgewandelt werden.

Das Gedicht nutzt eine sehr traditionelle, formale Struktur mit klaren Vierzeiler-Strophen, die durch ihr regelmäßiges Versmaß eine Art Gebetsformel oder Hymne ähneln. Die Sprache ist durchsetzt mit bildhaften Metaphern, die Gott als liebevollen Elternteil oder treuen Freund darstellen, der immer präsent und immer liebevoll ist, auch wenn das lyrische Ich ihn enttäuscht.

Insgesamt kann das Gedicht als Ausdruck tiefen Glaubens und inniger Gottesliebe interpretiert werden. Es spiegelt die Spiritualität und religiöse Hingabe der Epoche der Aufklärung wider, in der es entstand, und zeigt gleichzeitig die menschliche Sehnsucht nach Führung, Trost und Beständigkeit in einer sich ständig verändernden Welt. Es ist ein Loblied auf die göttliche Liebe und Güte und ein Gebet um göttliche Führung und Weisheit.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Bitten“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Johann Gottfried Herder. 1744 wurde Herder in Mohrungen (Ostpreußen) geboren. In der Zeit von 1760 bis 1803 ist das Gedicht entstanden. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zugeordnet werden. Der Schriftsteller Herder ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen.

Sturm und Drang ist die Bezeichnung für die Literaturepoche in den Jahren von 1765 bis 1790 und wird häufig auch zeitgenössische Genieperiode oder Geniezeit genannt. Diese Bezeichnung entstand durch die Verherrlichung des Genies als Urbild des höheren Menschen und Künstlers. Der Sturm und Drang knüpft an die Empfindsamkeit an und geht später in die Klassik über. Der Epoche des Sturm und Drang geht die Epoche der Aufklärung voran. Die Ideale und Ziele der Aufklärung wurden verworfen und es begann ein Auflehnen gegen die Prinzipien der Aufklärung und das gesellschaftliche System. Die Vertreter der Epoche des Sturm und Drang waren häufig junge Autoren im Alter zwischen zwanzig und dreißig Jahren, die sich gegen die vorherrschende Strömung der Aufklärung wandten. Die Autoren versuchten in den Gedichten eine geeignete Sprache zu finden, um die persönlichen Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen. Die alten Werke vorheriger Epochen wurden geschätzt und dienten als Inspiration. Dennoch wurde eine eigene Jugendkultur und Jugendsprache mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Wiederholungen und Halbsätzen geschaffen. Die Epoche des Sturm und Drang endete mit der Hinwendung Schillers und Goethes zur Weimarer Klassik.

Prägend für die Literatur der Weimarer Klassik war die Französische Revolution. Menschen setzten sich dafür ein, dass für alle die gleichen Rechte gelten sollten. Der Beginn der Weimarer Klassik ist im Jahr 1786 auszumachen. Die Literaturepoche endete im Jahr 1832 mit dem Tod Goethes. Sowohl die Bezeichnung Klassik als auch die Bezeichnung Weimarer Klassik sind gebräuchlich. Das literarische Zentrum dieser Epoche lag in Weimar. Der Begriff Humanität ist von zentraler Bedeutung für die Zeit der Weimarer Klassik. Die wichtigsten inhaltlichen Merkmale der Klassik sind: Selbstbestimmung, Harmonie, Toleranz, Menschlichkeit und die Schönheit. Ein hohes Sprachniveau ist für die Werke der Weimarer Klassik charakteristisch. Während man in der Epoche des Sturm und Drangs die natürliche Sprache wiedergeben wollte, stößt man in der Weimarer Klassik auf eine reglementierte Sprache. Die bedeutenden Autoren der Klassik sind: Friedrich Schiller, Johann Wolfgang von Goethe, Johann Gottfried von Herder und Christoph Martin Wieland.

Das 346 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 44 Versen mit insgesamt 11 Strophen. Weitere Werke des Dichters Johann Gottfried Herder sind „An den Schlaf“, „An die Freundschaft“ und „Apollo“. Zum Autor des Gedichtes „Bitten“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 413 Gedichte vor.

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