Die Bestimmung des Menschen von Johann Gottfried Herder

Als die Königin der Dinge,
Reich an unerschöpftem Reiz,
Wesen schuf, war nichts ihr zu geringe;
Sie begabete mit mildem Geiz;
Denn das Füllhorn aller Trefflichkeiten
War in ihrer Mutterhand,
Und sie paarte, was an Lieblichkeiten,
Wechselnd auch, zusammen je bestand.
 
Einen Schmuck von tausend Farben
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Webte sie um Florens Brust;
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Neu verjünget, wenn die Schwestern starben,
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Treten Schwestern auf mit Siegeslust.
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In ein Chor von tausend süßen Liedern
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Theilte sich ihr mächt'ger Klang,
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Der auf bunten schwebenden Gefiedern
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Disharmonisch-schön zum Himmel drang.
 
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Stärke, Klugheit, sanfte Triebe,
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Schönheit in jedweder Art,
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Und in tausend der Gestalten Liebe
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Ward umhergegossen ungespart.
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Endlich trat sie in sich selbst und senkte
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Tief sich in ihr Mutterherz:
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»Meinem Liebling, wie wenn ich ihm schenkte
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Aller meiner Kinder Lust und Schmerz?«
 
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Und sie sann. Auf einem Wege
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Ward aus Allem Sympathie.
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»Ferne,« sprach sie, »sei von ihm die Träge;
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Seine Lust sei ewig-süße Müh!
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Angeboren werd' ihm nichts; geboren
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Werd' in ihm ein ew'ger Trieb;
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Und auch jedes Glück, durch Schuld verloren,
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Werd' ihm tausendfach durch Reue lieb!
 
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Nur in Andern sei sein Leben,
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Wirksamkeit sein schönster Lohn!
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Enkel, die ihm Dank und Ehre geben,
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Lohnen ihn für seiner Brüder Hohn.
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So vereint durch alle Folgezeiten
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Strebe seine süße Müh;
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Neu gestärkt durch Widerwärtigkeiten,
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Steige mehr und mehr umfassend sie!
 
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Auch im Kleinsten werd' ums Ganze
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Ewig dies Geschlecht verdient;
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Nur am Ziel, im schönsten Abendglanze,
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Hängt der Kranz, der für den Menschen grünt.
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Für die Leidenden, die ihn umringen,
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Weih' ich ihn der Menschlichkeit,
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Und sein Herz, wenn Seufzer auf ihn dringen,
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Zum Altare der Barmherzigkeit.«
 
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Mutterkönigin! das schwächste Wesen,
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Das man einzeln nur beweint,
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Hast Du Dir im Ganzen auserlesen
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Und gesammt durch Lieb' und Noth vereint.
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Deinen Sinn fürs Größere und Größte
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Und Dein Mutterherz, Natur,
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Gabst Du uns. Da Bessere und Beste
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Weckt uns stets und lebt im Ganzen nur.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (28 KB)

Details zum Gedicht „Die Bestimmung des Menschen“

Anzahl Strophen
7
Anzahl Verse
56
Anzahl Wörter
309
Entstehungsjahr
1744 - 1803
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Dieses Gedicht stammt von Johann Gottfried Herder, einem prominenten deutschen Philosophen, Theologen und Dichter der Aufklärungszeit, der von 1744 bis 1803 lebte. „Die Bestimmung des Menschen“ wurde im Rahmen dieser kulturellen und intellektuellen Bewegung geschrieben, die das Streben nach Wissen, Vernunft und individueller Freiheit hervorhob.

Auf den ersten Blick erscheint das Gedicht als Huldigung an die Menschheit und ihre Fähigkeiten, strukturiert in sieben Strophen mit jeweils acht Versen. Herder nutzt eine Vielzahl an sinnbildlichen Darstellungen und poetischen Bildern, die die Großartigkeit der menschlichen Natur hervorheben.

Im Detail betrachtet bezieht sich das Gedicht auf die „Königin der Dinge“, die menschlichen Wesen schafft und sie mit einer Vielzahl von Gaben ausstattet. Dies könnte eine Anspielung auf die Natur oder die Göttlichkeit sein. Jeder Mensch wird mit verschiedenen „Schätzen“ begabt - Stärke, Intelligenz, Schönheit und vor allem die Fähigkeit zu lieben.

Im weiteren Verlauf des Gedichts wird betont, dass die „Bestimmung“ des Menschen darin besteht, ständig zu lernen und sich zu verbessern. Jeder einzelne Mensch hat einen „ewigen Antrieb“, der ihm eingeboren ist, und jegliches verlorene Glück wird ihm tausendfach durch Reue zurückerstattet. Hier wird vermutet, dass der Autor darauf anspielt, dass das Streben nach Verbesserung und das Lernen aus den Fehlern Teil des menschlichen Lebens sind.

Herder beschreibt außerdem, dass das Leben des Menschen in den Beziehungen zu anderen liegt und dass die menschlichen Anstrengungen letztendlich dem gesamten Menschengeschlecht zugutekommen. Jeder Mensch ist Teil eines größeren Ganzen und als solcher vereint durch Liebe und Not.

Anhand Form und Sprache fällt auf, dass Herder es versteht, durch die Verwendung von Metaphern und Symbolen eine emotionale und manchmal sogar dramatische Wirkung zu erzielen. Darüber hinaus verwendet er Alliterationen und Reime, um den Rhythmus und die Melodik des Gedichtes zu untermauern.

Zusammenfassend zeigt Herders Gedicht „Die Bestimmung des Menschen“ seine tiefgründige Liebe und Bewunderung für die Menschheit und die menschliche Natur. Es verkörpert den Geist der Aufklärung - das Streben nach Wissen, Verbesserung und dem Wohl der gesamten Gesellschaft. Es ist ein Aufruf zur Selbstverbesserung und zum Mitgefühl gegenüber den Mitmenschen.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Die Bestimmung des Menschen“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Johann Gottfried Herder. Herder wurde im Jahr 1744 in Mohrungen (Ostpreußen) geboren. Im Zeitraum zwischen 1760 und 1803 ist das Gedicht entstanden. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Sturm & Drang oder Klassik kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Der Schriftsteller Herder ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen.

Sturm und Drang ist die Bezeichnung für die Literaturepoche in den Jahren von etwa 1765 bis 1790 und wird häufig auch zeitgenössische Genieperiode oder Geniezeit genannt. Diese Bezeichnung entstand durch die Verherrlichung des Genies als Urbild des höheren Menschen und Künstlers. Der Sturm und Drang knüpft an die Empfindsamkeit an und geht später in die Klassik über. Der Sturm und Drang war eine Protestbewegung, die aus der Aufklärung hervorging. Der Protest richtete sich gegen den Adel und dessen höfische Welt, sowie andere absolutistische Obrigkeiten. Er richtete sich aber auch gegen das Bürgertum, das als eng und freudlos galt, und dessen Moralvorstellungen veraltet waren. Als Letztes richtete sich der Protest der Epoche des Sturm und Drang gegen Traditionen in der Literatur. Bei den Schriftstellern handelte es sich meist um Autoren jüngeren Alters. Meist waren sie unter 30 Jahre alt. Um die subjektiven Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen, wurde insbesondere darauf geachtet eine geeignete Sprache zu finden und in den Gedichten einzusetzen. Die Nachahmung und Idealisierung von Schriftstellern aus vergangenen Epochen wie dem Barock wurde abgelehnt. Die traditionellen Werke wurden dennoch geschätzt und dienten als Inspiration. Es wurde eine eigene Jugendkultur und Jugendsprache mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Wiederholungen und Halbsätzen geschaffen. Mit seinen beiden wichtigen Vertretern Schiller und Goethe entwickelte sich der Sturm und Drang weiter und ging in die Weimarer Klassik über.

Prägend für die Literatur der Weimarer Klassik war die Französische Revolution. Menschen setzten sich dafür ein, dass für alle die gleichen Rechte gelten sollten. Der Beginn der Weimarer Klassik ist im Jahr 1786 auszumachen. Die Epoche der Klassik endete im Jahr 1832 mit dem Tod Johann Wolfgang von Goethes. Die Weimarer Klassik wird oft nur als Klassik bezeichnet. Beide Bezeichnungen sind in der Literatur gebräuchlich. Menschlichkeit, Toleranz und Übereinstimmung von Mensch und Natur, von Gesellschaft und Individuum sind die Ideale der Klassik. Im Zentrum des klassischen Kunstkonzepts steht das Streben nach harmonischem Ausgleich der Gegensätze. In der Gestaltung wurde das Gültige, Gesetzmäßige, Wesentliche aber auch der Ausgleich und die Harmonie gesucht. Im Gegensatz zum Sturm und Drang, wo die Sprache oft roh und derb ist, bleibt die Sprache in der Weimarer Klassik den sich selbst gesetzten Regeln treu. Die populärsten Schriftsteller der Weimarer Klassik sind Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller. Weitere Schriftsteller der Weimarer Klassik sind Christoph Martin Wieland und Johann Gottfried Herder. Die beiden zuletzt genannten arbeiteten jeweils für sich. Einen konstruktiven Austausch im Sinne eines gemeinsamen Arbeitsverhältnisses gab es nur zwischen Friedrich Schiller und Johann Wolfgang von Goethe.

Das 309 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 56 Versen mit insgesamt 7 Strophen. Johann Gottfried Herder ist auch der Autor für Gedichte wie „An den Schlaf“, „An die Freundschaft“ und „Apollo“. Zum Autor des Gedichtes „Die Bestimmung des Menschen“ haben wir auf abi-pur.de weitere 413 Gedichte veröffentlicht.

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