Die Wage von Johann Gottfried Herder

Unter den Sternen hört' ich klingen die goldene Wage;
Strebend im Gleichgewicht, tönte sie Allen den Schall:
Wiedervergeltung. Er seufzet' hinab zu der Erde vom Himmel,
Und vom Felsenaltar rief ihn die Echo zurück.
Wie der Hagel anschießt und in gleichem Maaße zurückprallt,
Hier der glänzende Strahl, dort der geworfene Ball:
Also trifft sich im Winkel, im innersten Herzen des Menschen,
Gleiches mit Gleichem; es paart immer sich Folge mit That.
Lohn dem Guten und Strafe dem Bösen. Im menschlichen Herzen
10 
Thront der Richter und wägt, klaget und zeuget und spricht,
11 
Vor ihm das offene Buch. Im Weltgerichte der Völker,
12 
In der Tyrannen Herz, selbst in des Heuchelnden Brust
13 
Tönt die Stimme der Angst, des Vorwurfs, Neides und Abscheus;
14 
Nachts und am Tag ertönt bellend der höllische Schlund.
15 
Aber im Herzen des Frommen ist Ruh; er kennt seine That nicht;
16 
Doch ihn lohnet sein Werk sicher mit frohem Genuß.
17 
Auch in dem Kommen des Weltgerichts ertönet die Wage;
18 
Höret Ihr, Völker, nicht kommen den mächtigen Tritt?
19 
Seufzend höret Ihr nicht; doch er kommt! Die bekränzete Säule
20 
Geht aus Wolken hervor, Großmuth und stille Geduld.
21 
Und jetzt glänzet die Wage: »Was Ihr dem Geringsten der Menschen
22 
Thatet, thatet Ihr mir. Kommt und genießet den Lohn!«
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (25.9 KB)

Details zum Gedicht „Die Wage“

Anzahl Strophen
1
Anzahl Verse
22
Anzahl Wörter
204
Entstehungsjahr
1800
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Die Wage“ wurde von Johann Gottfried Herder, einem deutschen Dichter und Philosophen der Aufklärung geschrieben, der von 1744 bis 1803 lebte. Basierend auf diesen Informationen kann das Gedicht eine zeitliche Zuordnung in das 18. Jahrhundert haben, genauer gesagt die Spätphase der Aufklärung.

Bei einer ersten Lektüre des Gedichts wird deutlich, dass es sich um ein Gedicht mit philosophischem und moralischem Gehalt handelt. Die Metapher der „goldenen Wage“, das zentrale Bild des Gedichts, deutet darauf hin, dass es um Fragen von Gerechtigkeit und Moral geht.

Inhaltlich geht es in „Die Wage“ um das Prinzip von Ursache und Wirkung, um die Frage von Taten und ihrer Konsequenzen. Das lyrische Ich stellt die Vorstellung dar, dass jede menschliche Handlung – ob gut oder böse – eine entsprechende Reaktion hervorruft. Diese wird in den Versen 7 und 8 durch den Begriff „Wiedervergeltung“ zum Ausdruck gebracht. Der Mensch ist somit in gewisser Weise sein eigener Richter, wie in den Versen 9 und 10 dargestellt wird.

Darüber hinaus wird darauf hingewiesen, dass das Gewissen, repräsentiert durch die „goldene Wage“, in jedem Menschen, sei es Tyrann oder Heuchler, existiert und sich in Form von Angst, Vorwürfen, Neid und Abscheu äußert (Verse 12 und 13). Im Gegensatz dazu bringt die Tat des Gerechten ruhigen Genuss (Verse 15 und 16).

Die Form und die Sprache des Gedichts sind eher traditionell. Es besteht aus 22 Versen und ist in gereimten Alexandrinern verfasst, die eine ernsthafte, gravitätische Atmosphäre erzeugen. Die Sprache ist reich an Metaphern und bildlichen Ausdrücken, die den philosophischen Inhalt des Gedichts unterstreichen. Die wiederholten Aufforderungen und Fragen an den Leser dienen dazu, den moralischen Appell des Gedichts zu verstärken und den Leser zur Reflexion über seine eigenen Taten anzuregen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Herders Gedicht „Die Wage“ einen starken moralischen Appell enthält. Es geht darum, dass jede Handlung, ob gut oder böse, Konsequenzen haben wird. Dabei greift es auf klassische Metaphern und Bilder zurück, die einerseits den philosophischen Gehalt des Gedichts hervorheben, andererseits aber auch den didaktischen Charakter unterstreichen.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Die Wage“ des Autors Johann Gottfried Herder. Im Jahr 1744 wurde Herder in Mohrungen (Ostpreußen) geboren. Im Jahr 1800 ist das Gedicht entstanden. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zuordnen. Bei dem Schriftsteller Herder handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Die Epoche des Sturm und Drang reicht zeitlich etwa von 1765 bis 1790. Sie ist eine Strömung innerhalb der Aufklärung (1720–1790) und überschneidet sich teilweise mit der Epoche der Empfindsamkeit (1740–1790) und ihren Merkmalen. Häufig wird der Sturm und Drang auch als Genieperiode oder Geniezeit bezeichnet. Die Klassik knüpft an die Literaturepoche des Sturm und Drang an. Die Epoche des Sturm und Drang war eine Protestbewegung, die aus der Aufklärung hervorging. Der Protest richtete sich gegen den Adel und dessen höfische Welt, sowie andere absolutistische Obrigkeiten. Er richtete sich darüber hinaus auch gegen das Bürgertum, das als eng und freudlos galt, und dessen Moralvorstellungen veraltet waren. Als Letztes richtete sich der Protest des Sturm und Drang gegen Traditionen in der Literatur. Bei den Vertretern der Epoche des Sturm und Drang handelte es sich vorwiegend um junge Autoren. Um die persönlichen Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen, wurde insbesondere darauf geachtet eine geeignete Sprache zu finden und in den Gedichten einzusetzen. Es wurde eine eigene Jugendsprache und Jugendkultur mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Halbsätzen und Wiederholungen geschaffen. Die traditionellen Werke vorangegangener Epochen wurden geschätzt und dienten als Inspiration. Goethe, Schiller und die anderen Autoren jener Zeit suchten nach etwas Universalem, was in allen Belangen und für jede Zeit gut sei und entwickelten sich stetig weiter. So ging der Sturm und Drang über in die Weimarer Klassik.

Die Weimarer Klassik ist eine Epoche der deutschen Literaturgeschichte, die von zwei zentralen Dichtern geprägt wurde: Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller. Die Literaturepoche beginnt im Jahr 1786 mit Goethes Italienreise und endet im Jahr 1832 mit dem Tod Goethes. Es gibt aber auch Definitionen, die die gemeinsame Schaffenszeit der beiden befreundeten Dichter Goethe und Schiller von 1794 bis zu Schillers Tod 1805 als Weimarer Klassik festlegen. Das Zentrum der Literatur der Weimarer Klassik lag in Weimar. Oft wird die Epoche auch nur als Klassik bezeichnet. In Anlehnung an das antike Kunstideal wurde in der Weimarer Klassik nach Harmonie, Vollkommenheit, Humanität und der Übereinstimmung von Inhalt und Form gesucht. Charakteristisch ist ein hohes Sprachniveau und eine reglementierte Sprache. Diese reglementierte Sprache verdeutlicht im Vergleich zum natürlichen Sprachideal des Sturm und Drang mit all seinen Derbheiten den Ausgleich zwischen Gefühl und Vernunft. Die Dichter haben in der Weimarer Klassik auf Stil- und Gestaltungsmittel aus der Antike zurückgegriffen. Die Hauptvertreter der Weimarer Klassik sind Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Johann Gottfried Herder und Christoph Martin Wieland. Einen künstlerischen Austausch im Sinne einer gemeinsamen Arbeit gab es jedoch nur zwischen Friedrich Schiller und Johann Wolfgang von Goethe.

Das 204 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 22 Versen mit nur einer Strophe. Weitere bekannte Gedichte des Autors Johann Gottfried Herder sind „An die Freundschaft“, „Apollo“ und „Bilder und Träume“. Zum Autor des Gedichtes „Die Wage“ haben wir auf abi-pur.de weitere 413 Gedichte veröffentlicht.

+ Wie analysiere ich ein Gedicht?

Daten werden aufbereitet

Fertige Biographien und Interpretationen, Analysen oder Zusammenfassungen zu Werken des Autors Johann Gottfried Herder

Wir haben in unserem Hausaufgaben- und Referate-Archiv weitere Informationen zu Johann Gottfried Herder und seinem Gedicht „Die Wage“ zusammengestellt. Diese Dokumente könnten Dich interessieren.

Weitere Gedichte des Autors Johann Gottfried Herder (Infos zum Autor)

Zum Autor Johann Gottfried Herder sind auf abi-pur.de 413 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.