Germanien von Johann Gottfried Herder

Deutschland, schlummerst Du noch? Siehe, was rings um Dich,
Was Dir selber geschah! Fühl es, ermuntre Dich,
Eh die Schärfe des Siegers
Dir mit Hohne den Scheitel blößt!
 
Deine Nachbarin sieh, Polen, wie mächtig einst
Und wie stolz! o sie kniet, ehren- und schmuckberaubt,
Mit zerrissenem Busen
Vor drei Mächtigen und verstummt.
 
Ach, es halfen ihr nicht ihre Magnaten, nicht
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Ihre Edeln, es half keiner der Namen ihr,
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Die aus tapferer Vorzeit
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Ewig glänzen am Sterngezelt.
 
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Und nun wende den Blick! Schau die zerfallenen
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Trümmer, welche man sonst Burgen der Freiheit hieß,
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Unzerstörbare Nester;
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Ein Wurf stürzte die Sichern hin.
 
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Weiter schaue! Du siehst, ferne in Osten steht
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Dir ein Riese; Du selbst lehretest ihn, sein Schwert,
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Seine Keule zu schwingen;
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Zorndorf probte sie auch an Dir.
 
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Schau gen Westen! Es droht, fertig in jedem Kampf,
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Vielgewandt und entglüht, trotzend auf Glück und Macht,
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Dir ein anderer Kämpfer,
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Der Dir schon eine Locke nahm.
 
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Und Du säumetest noch, Dich zu ermannen, Dich
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Klug zu einen? Du säumst, kleinlich im Eigennutz,
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Statt des polnischen Reichstags,
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Dich zu ordnen, ein mächtig Volk?
 
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Soll Dein Name verwehn? Willst Du zertheilet auch
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Knien vor Fremden? Und ist keiner der Väter Dir,
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Dir Dein eigenes Herz nicht,
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Deine Sprache nicht Alles werth?
 
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Sprich, mit welcher, o sprich, welcher begehrtest Du
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Sie zu tauschen? Dein Herz, soll es des Galliers,
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Des Kosacken, Kalmucken
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Pulsschlag fröhnen? Ermuntre Dich!
 
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Wer sich selber nicht schützt, ist er der Freiheit werth?
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Der gemaleten, die nur ihm gegönnet ward.
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Ach, die Pfeile des Bündels,
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Einzeln bricht sie der Knabe leicht.
 
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Höfe schützen Dich nicht; ihre Magnaten fliehn,
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Wenn kaum nahet der Feind; Inful und Mitra nicht.
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Wirf die lähmende Deutschheit
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Weg und sei ein Germanien!
 
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Träum' ich, oder ich seh' welch einen Genius
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Niederschweben? Er knüpft, einig verknüpfet er
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Zwei germanische Freundes
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Hände, Preußen und Oesterreich.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (28.6 KB)

Details zum Gedicht „Germanien“

Anzahl Strophen
12
Anzahl Verse
48
Anzahl Wörter
305
Entstehungsjahr
1791
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Germanien“ wurde von Johann Gottfried Herder verfasst, einem denkwürdigen Philosophen und Literaturwissenschaftler der Zeit der Aufklärung im späten 18. Jahrhundert.

Bei einem ersten Blick auf das Gedicht erweckt es einen aufrüttelnden Ton. Herder spricht mit direktem Appell an Deutschland, ermahnt es, aus seiner Lethargie aufzuwachen und die bedrohlichen Umstände, die es umgeben, zu bemerken.

Der Inhalt des Gedichts kann in einfachen Worten wie folgt zusammengefasst werden: Deutschland wird aufgefordert, seine Lethargie zu überwinden und die Realität der von Krieg und Zerstörung geprägten Welt um ihn herum zu erkennen. Die Beispiele Polens und seiner Zerstörung, aber auch die Bedrohung aus Osten und Westen durch Mächte, die Deutschland teilweise selbst hervorgebracht hat, sollen Deutschland eine wichtige Lektion geben. Es wird ermahnt, sich zu vereinen und seine Identität und Unabhängigkeit zu schützen.

Herders lyrisches Ich versucht, das Bewusstsein für die Bedeutung von Einigkeit und Selbstbehauptung in Zeiten der Bedrohung zu wecken. Er zeichnet das Bild einer Welt, in der Stolz und Stärke bröckeln und Reiche verfallen. Gleichzeitig weist er auf die törichte Selbstgefälligkeit und den Eigennutz hin, die Deutschland daran hindern, diese wichtige Lektion zu lernen.

Die Form und Sprache des Gedichts sind sorgfältig gewählt, um wirkungsvoll die Gedanken und Gefühle des lyrischen Ichs zu vermitteln. Das Gedicht besteht aus zwölf Strophen, die jeweils vier Verse umfassen. Die Strophen dienen dazu, den Inhalt des Gedichts in verschiedene thematische Abschnitte zu unterteilen, beginnend mit der Aufforderung an Deutschland, aufzuwachen und sich der Realität zu stellen, und endend mit dem Appell an Einigkeit und Stärke. Die Sprache ist stark und eindringlich, geprägt von lebendigen Bildern und Metaphern, um die dringende Botschaft zu vermitteln.

Herders „Germanien“ ist also ein kräftiger Aufruf an sein Heimatland, sich seiner Stärken und seiner Identität bewusst zu werden und diese gegen drohende Gefahren zu verteidigen. Es ist ein Werk, das sowohl Appell als auch Warnung ist, liebevoll und doch unerbittlich in seiner Botschaft.

Weitere Informationen

Johann Gottfried Herder ist der Autor des Gedichtes „Germanien“. Geboren wurde Herder im Jahr 1744 in Mohrungen (Ostpreußen). Im Jahr 1791 ist das Gedicht entstanden. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Sturm & Drang oder Klassik kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Bei dem Schriftsteller Herder handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Der Sturm und Drang (häufig auch Geniezeit oder Genieperiode genannt) ist eine literarische Epoche, welche zwischen 1765 und 1790 existierte und an die Empfindsamkeit anknüpfte. Später ging sie in die Klassik über. Der Sturm und Drang war eine Protestbewegung, die aus der Aufklärung hervorging. Der Protest richtete sich dabei gegen den Adel und dessen höfische Welt, sowie andere absolutistische Obrigkeiten. Er richtete sich darüber hinaus auch gegen das Bürgertum, das als eng und freudlos galt, und dessen Moralvorstellungen veraltet waren. Als Letztes richtete sich der Protest des Sturm und Drang gegen Traditionen in der Literatur. Die Vertreter der Epoche des Sturm und Drang waren häufig Autoren im jungen Alter, die sich gegen die vorherrschende Strömung der Aufklärung wandten. In den Dichtungen wurde darauf geachtet eine geeignete Sprache zu finden, um die persönlichen Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen. Die traditionellen Werke vorangegangener Epochen wurden geschätzt und dienten als Inspiration. Aber dennoch wurde eine eigene Jugendsprache und Jugendkultur mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Halbsätzen und Wiederholungen geschaffen. Mit seinen beiden wichtigen Vertretern Goethe und Schiller entwickelte sich der Sturm und Drang weiter und ging in die Weimarer Klassik über.

Goethe (* 28. August 1749 in Frankfurt am Main; † 22. März 1832 in Weimar) ist einer der bekanntesten Dichter der Weimarer Klassik. 1786 unternahm Goethe eine Italienreise, diese wird heute als Beginn der Weimarer Klassik angesehen. Das Ende der Literaturepoche ist im Jahr 1832 auszumachen. Sowohl Klassik als auch Weimarer Klassik sind häufig verwendete Bezeichnungen für die Literaturepoche. Menschlichkeit, Toleranz und Übereinstimmung von Natur und Mensch, von Gesellschaft und Individuum sind die Ideale der Klassik. Im Zentrum des klassischen Kunstkonzepts steht das Streben nach harmonischem Ausgleich der Gegensätze. In der Klassik wird eine einheitliche, geordnete Sprache verwendet. Allgemeingültige, kurze Aussagen (Sentenzen) sind häufig in Werken der Klassik zu finden. Da man die Menschen früher mit der Kunst und somit auch mit der Literatur erziehen wollte, setzte man großen Wert auf Stabilität und formale Ordnung. Metrische Ausnahmen befinden sich häufig an Stellen, die hervorgehoben werden sollen. Die wichtigen Schriftsteller der Klassik sind Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller. Weitere bekannte Schriftsteller der Klassik sind Johann Gottfried Herder und Christoph Martin Wieland. Die beiden zuletzt genannten arbeiteten aber jeweils für sich. Einen produktiven Austausch im Sinne eines gemeinsamen Arbeitsverhältnisses gab es nur zwischen Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller.

Das 305 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 48 Versen mit insgesamt 12 Strophen. Johann Gottfried Herder ist auch der Autor für Gedichte wie „An Auroren“, „An den Schlaf“ und „An die Freundschaft“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Germanien“ weitere 413 Gedichte vor.

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