Das Lied vom Bache von Johann Gottfried Herder

Traurig ein Wandrer saß am Bach,
Sah den fliehenden Wellen nach;
Ein welker Kranz umwand sein Haupt.
»Was blickst Du, Wandrer, mattumlaubt,
So traurig nieder?«
 
»Jüngling, den Bach der Zeit hinab
Schau' ich, in das Wellengrab
Des Lebens; hier versank es, goß
Zwei kleine Wogen, da zerfloß
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Die dritte Woge.
 
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Jüngling, im großen Zeitenraum
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Schweben wir also! Der Saum
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Der Menschenthaten, er zerrinnt
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Auf glatter Fläche; leiser Wind
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Hat ihn verwehet.
 
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Jüngling, ein Menschenleben, schwach
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Träufelt's in der Zeiten Bach.
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Sie rollt, sie wölbt sich prächtig um,
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Die erste Welle; sieh, wie stumm
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Die dritte schweiget!«
 
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Trübe zum Wandrer saß ich hin,
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Sah die krausen Wellen fliehn,
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Sah Tropfen sinken in den Bach,
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Die Wogenkreise sanken nach,
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Mir flossen Thränen.
 
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»Jüngling, o, Deine Ruhmesthrän'
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Rinnet edel! Lieb und schön
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Lacht Lebensblüth' am Morgen früh,
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Und sieh, die frühen Kränze, die!
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Wie sie verwelken!
 
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Jüngling, ich war ums Vaterland,
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Edler Thor, wie Du entbrannt.
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Gerungen hab' ich und gelebt,
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Und was errungen, was erstrebt?
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Die welken Blätter.
 
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Jüngling, o sieh, da ziehet hin
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Spreu im Strom! Prächtig ziehn
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Die Schäume; die Kleinode sind
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Versunken. Jenes Hügels Wind
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Pfeift leere Lieder.«
 
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Traurig den Bach sah ich hinab,
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Thränen träufelten ins Grab
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Des Ruhmes! »Lieber Wandrer Du,
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Was giebt denn Glück, was giebt denn Ruh?«
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Sank ihm zum Busen.
 
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»Jüngling, o sieh im Bache Dich!
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So sah ich mit Wonne mich
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Im Freunde seel- und herzvereint!
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Ein Lüftchen schied uns - Bild und Freund
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War fortgewehet!
 
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Jüngling, o sieh im Bache Dich!
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So sah ich mit Wonne mich
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In meiner Lieben. Süßer Wahn!
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Das Leben rann, das Bild zerrann
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Und Glück und Liebe!
 
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Jüngling, ich floh zu strenger Müh;
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Oft, ach öfters täuschet sie.
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Ich wacht' um manches edle Herz
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Mit Brudertreu - mit Bruderschmerz
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Sah ich's versinken!«
 
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Trübe, verzweifelnd sah ich ab:
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»Grab des Ruhmes, Tugendgrab,
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Des Lebens Grab, o wärest Du
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Auch meines! Läge stumme Ruh
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In Deinem Abgrund!«
 
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»Jüngling, o Thor, wo findest Du
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Je in Wuth der Seele Ruh?
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Wir müssen All' den Bach hinab.
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Was mir, dem Jüngling, Mühe gab,
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Giebt jetzt mir Labung.
 
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Dorten hinan, wo sich's ergießt,
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Wo der Strom in Wolken fließt,
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Da weint man nicht der Lebenszeit;
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Zum Meer der Allvergessenheit
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Rann nichts hinüber.
 
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Trinke noch immer Wonne Dir,
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Jüngling, aus dem Strome hier!
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Ich schöpfe meinen Labetrank,
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Dem guten Gotte sag' ich Dank
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Und wall' hinüber.«
 
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Also vom Bach der Greis erstand,
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Um des Jünglings Schläfe wand
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Er seinen Kranz. Der Kranz erblüht',
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Und immer sprach des Baches Lied
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Dem Jüngling Weisheit.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (30.5 KB)

Details zum Gedicht „Das Lied vom Bache“

Anzahl Strophen
17
Anzahl Verse
85
Anzahl Wörter
419
Entstehungsjahr
1768
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Das Lied vom Bache“ wurde von Johann Gottfried Herder verfasst, einem der Vertreter der Weimarer Klassik und der Aufklärung, welche vom Ende des 18. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts stattfand.

Auf den ersten Blick handelt das Gedicht vom melancholischen Dialog zwischen einem alten Wanderer und einem jungen Mann am Flussufer. Der alte Mann, der als Metapher für das vergehende Leben und die Unausweichlichkeit des Alters interpretiert werden kann, reflektiert über die Flüchtigkeit des Lebens, welches symbolisch mit dem fließenden Wasser des Baches dargestellt wird. Dies zeigt seine retrospektive Betrachtung des eigenen Lebens und die Erkenntnis, dass alles Vergänglich ist. Durch den Dialog mit dem jungen Mann kann man auch eine Weitergabe von Lebenserfahrung und Weisheit erkennen.

In seinem Gedicht verwendet Herder eine metaphorische und malerische Sprache, die den Fluss als einen ständigen Begleiter und Zeugen des Lebens darstellt. Die Struktur des Gedichtes beinhaltet 17 Strophen zu je 5 Versen. Die dreigliedrige Strophenstruktur spiegelt ein Wechselspiel zwischen dialogischen und erzählenden Passagen wider.

In den einzelnen Strophen bewegt Herder die metaphorische Ebene des Wassers und dessen Fließen vom Jungsein bis zum Alter, von der Freude bis zum Schmerz, von der Hoffnung bis zur Enttäuschung, und letztendlich zum Tod. Er bringt eine komplexe und tiefgründige Auseinandersetzung mit der menschlichen Existenz zum Ausdruck. So verkörpert das Wasser als Leitmetapher den Lauf des Lebens, an dem alles Vergängliche vorbeizieht. Es zeigt die Flüchtigkeit des Lebens, der Liebe und des Ruhms. Gleichzeitig ist das Wasser eine Quelle der Weisheit, der Erkenntnis und schließlich der Durchquerung hin zu einer anderen Ebene - vielleicht der des Todes bzw. eines Lebens nach dem Tod.

Insgesamt ist das Gedicht eine Reflexion über den Fluss des Lebens und die Unvermeidlichkeit der Zeit. Es demonstriert gleichzeitig die Schönheit und die Vergänglichkeit des Lebens, und die Notwendigkeit, Weisheit aus den Erfahrungen zu gewinnen, um mit den unausweichlichen Verlusten und Veränderungen umzugehen. Es ist ein Appell, das Leben in all seinen Facetten zu umarmen und zu feiern, während man sich auf die unvermeidliche Reise flussabwärts vorbereitet.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Das Lied vom Bache“ des Autors Johann Gottfried Herder. Der Autor Johann Gottfried Herder wurde 1744 in Mohrungen (Ostpreußen) geboren. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1768. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zugeordnet werden. Herder ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen.

Zwischen den Literaturepochen Empfindsamkeit und Klassik lässt sich in den Jahren von 1765 bis 1790 die Strömung Sturm und Drang einordnen. Zeitgenössische Genieperiode oder Geniezeit sind häufige Bezeichnungen für diese Literaturepoche. Der Sturm und Drang war die Phase der Rebellion junger deutscher Autoren, die sich gegen die Prinzipien der Aufklärung und das gesellschaftliche System wendeten. Bei den Vertretern der Epoche des Sturm und Drang handelte es sich vorwiegend um Schriftsteller jüngeren Alters. Um die persönlichen Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen, wurde besonders darauf geachtet eine geeignete Sprache zu finden und in den Gedichten einzusetzen. Es wurde eine eigene Jugendsprache und Jugendkultur mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Halbsätzen und Wiederholungen geschaffen. Die alten Werke vorangegangener Epochen wurden dennoch geschätzt und dienten weiterhin als Inspiration. Die Epoche des Sturm und Drang endete mit der Hinwendung Schillers und Goethes zur Weimarer Klassik.

Die Weimarer Klassik dauerte von 1786 bis 1832 an. Bedeutende Vertreter dieser Literaturepoche waren Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller. Die zeitliche Abgrenzung orientiert sich dabei an dem Schaffen Goethes. So wird dessen erste Italienreise im Jahr 1786 als Beginn der deutschen Klassik angesehen, die dann mit seinem Tod im Jahr 1832 ihr Ende nahm. Wie der Name bereits verrät, liegen der Ausgangspunkt und das literarische Zentrum der Weimarer Klassik, die auch kurz Klassik genannt wird, in Weimar. Zum Teil wird auch Jena als ein weiteres Zentrum der Literaturepoche angesehen. Die Weimarer Klassik geht von der Erziehbarkeit des Individuums zum Guten aus. Ihr Ziel ist die Humanität, die wahre Menschlichkeit (das Schöne, Gute, Wahre). Die Vertreter der Weimarer Klassik gingen davon aus, dass Gott den Menschen Vernunft und Gefühle gibt und die Menschen damit dem Leben einen Sinn geben. Das Individuum ist also von höheren Mächten bestimmt. In der Gestaltung wurde das Wesentliche, Gültige, Gesetzmäßige aber auch der Ausgleich und die Harmonie gesucht. Im Gegensatz zum Sturm und Drang, wo die Sprache oftmals derb und roh ist, bleibt die Sprache in der Klassik den sich selbst gesetzten Regeln treu. Die bekanntesten Dichter der Klassik sind: Friedrich Schiller, Johann Wolfgang von Goethe, Christoph Martin Wieland und Johann Gottfried von Herder.

Das vorliegende Gedicht umfasst 419 Wörter. Es baut sich aus 17 Strophen auf und besteht aus 85 Versen. Der Dichter Johann Gottfried Herder ist auch der Autor für Gedichte wie „An die Freundschaft“, „Apollo“ und „Bilder und Träume“. Zum Autor des Gedichtes „Das Lied vom Bache“ haben wir auf abi-pur.de weitere 413 Gedichte veröffentlicht.

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