Ein Nachtgemälde von Johann Gottfried Herder

Also werden sie verdämmern,
Meines Lebens Sonnenblicke,
Schön und traurig in die Nacht;
Und Du, Thräne meiner Jugend,
Brichst mir meine Sonnenblicke
Früher schon in Todesnacht!
 
Lustgefilde grauer Schatten,
Blumen, die der Tod entfärbet,
Deren Haupt der kalte Thau
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Niederbeugt mit stummer Thräne,
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Und die Thräne träufelt nieder,
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Und der Boden trinkt sie stumm:
 
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Also sind auch mir verblühet,
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Mir verschwunden Bäum' und Lauben.
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Meiner Jugend Brüder sind,
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Alle sind nicht mehr, die Brüder,
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Die Gespielen meiner Jugend!
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Und ist denn ihr Bruder noch?
 
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Schöner Silbersee, in dem ich
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Mit gesenktem Seherblicke
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Neue Welten hangen sah,
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Deine Welten sind versunken,
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Schöner Silbersee, Du hüllest
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Trübe Deinen blauen Schooß.
 
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Gleich den bunten Schmetterlingen,
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Die im Morgenduft der Blumen
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Gaukelten, sind sie mir weg-,
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Weggegaukelt, Freuden, Freunde,
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Sind in alle Welt zerstreuet,
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Oder modern schon zu Staub.
 
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Und in einer Pilgerhütte,
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Unter dieses Baumes Schatten,
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Wohn' ich. Ach, des Baumes Frucht
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Geußet Müh und schmecket bitter;
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Aber seine Blüthen trösten;
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Denn sie heißen Hoffnungen.
 
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Und so komm denn, mich zu trösten,
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Mich zu laben, süße Blüthe,
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Und auch Du komm, bittre Frucht!
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Jenseit jener Berge sollen
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Süßre Gartenfrüchte blühen,
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Und sie reifen schon für mich.
 
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Und auch von dem kalten Thaue
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Soll sich Alles frischer färben,
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Sollen schöner auferstehn
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Blumen, holde Morgenrosen,
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Mit der Freudethrän' im Busen,
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Ihre Wange Morgenroth.
 
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Und ja auch um meine Hütte
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Duftet eine Nachtviole
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Labend-süßen Schattenduft.
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Dufte dort, bescheidne Blume,
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Mich verschleiert zu erquicken
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Mit dem Kuß der Dämmerung!
 
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Nie will ich der Sonne Spiegel
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Rauben, Deinen Duft zu kosten,
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Nie Dich in ein Strahlenmeer
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Tauchen, Deinen Wuchs zu höhnen,
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Deine Demuth zu beschämen,
60 
Deine Nichtigkeit zu schmähn.
 
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Denn was soll der Sonnenspiegel,
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Duft der Dämmerung zu kosten?
63 
Was soll mir ein Strahlenmeer,
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Schattenfreunde zu beschämen,
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Morgenträume zu verjagen
66 
Und den Jüngling zu ergraun?
 
67 
Trug ist Alles: Licht und Schatten,
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Morgenpracht und Abenddämmrung,
69 
Nachtviol' und Nachtigall.
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Trug um Trug! Und Trugeswonne,
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Bei dem Tausche wegzutauschen,
72 
Um sich arm getäuscht zu sehn!
 
73 
Weise Blöde! Armer Scharfsinn,
74 
Der den falschen Zauberspiegel
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Nicht zerbricht, nur dunkel trübt!
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Sohn von Liliput, Du Kleinling,
77 
Zeigst in meinen Jugendfreuden
78 
Mir statt Reiz ein Brobdingnag.
 
79 
Menschen-Feind, nicht Freund! Du zeigst mir,
80 
Ruhm sei Schatten, meine Liebe
81 
Buhle um ein Rosenglück.
82 
Ruhm ist Schatten, Jugendliebe
83 
Ist nur eine Rosenliebe;
84 
Aber auch die Rose blüht.
 
85 
Nein, o Welt, Du holde Wüste,
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Wo nichts ist und Alles scheinet,
87 
Und doch wahr und lieblich scheint!
88 
Und Ihr süßen Täuscherinnen,
89 
Sinne, gebt mir immer Wolken,
90 
Wenn sie Engelspeise sind!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (30.6 KB)

Details zum Gedicht „Ein Nachtgemälde“

Anzahl Strophen
15
Anzahl Verse
90
Anzahl Wörter
410
Entstehungsjahr
1769
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Johann Gottfried Herder, ein deutscher Dichter, Philosoph und Theologe, ist der Autor des Gedichts „Ein Nachtgemälde“. Herder lebte von 1744 bis 1803, seine Schaffensphase fällt in die Zeit der Aufklärung und der Weimarer Klassik.

Das Gedicht vermittelt zunächst einen melancholischen Eindruck und taucht tiefer in eine Reflexion über das Leben, den Tod und die Zeit ein. Das lyrische Ich thematisiert die Vergänglichkeit des Lebens, indem es auf die Senkung der Sonne und den herannahenden Abend anspielt, die metaphorisch für das Altern und den Tod stehen. Es spricht von seinen verflossenen Lebensmomenten, seinem ergrauten Freudenfeld und dem Verlust von Freunden und Bekannten aus seiner Jugend.

Die Sprache des Gedichts ist lyrisch und reich an metaphorischen Bildern, die eine Reihe von kraftvollen und poetischen Ausdrücken enthalten. Metaphorische Elemente wie „meine Sonnenblicke“, das spirtuelle „schöner Silbersee“ oder „bunte Schmetterlinge“ steigern das Gefühl des Verlusts und der Vergänglichkeit. Insgesamt besteht das Gedicht aus 15 Strophen, die jeweils sechs Verse besitzen, und gibt somit einen einheitlichen formellen Rahmen. Die Verse sind mehrheitlich jambisch.

Herder versteht es, durch den gekonnten Einsatz von zeitlichen und räumlichen Konstruktionen Wechsel von hell und dunkel, Hoffnung und Verlust, traurig und schön zu erzeugen, was zu einer eindringlichen Wirkung der Trauer führt. Die Natur wird als Szenerie für die Darstellung dieser Zustände verwendet und spiegelt dabei die Gefühle und Zustände des lyrischen Ichs wider.

Gegen Ende finden sich trotz des melancholischen Tons Anzeichen von Hoffnung und Trost. „Seine Blüthen trösten; Denn sie heißen Hoffnungen.“, sagt das lyrische Ich, in Anlehnung an seine Umgebung, und betont die Unvermeidlichkeit des Todes, aber auch die Möglichkeit der Erneuerung und des Neubeginns.

Das Gedicht endet mit einer Aufforderung an die Sinne, immer Wolken zu liefern, „wenn sie Engelspeise sind“. Hier vermittelt Herder die Idee, dass selbst Illusionen und Täuschungen wesentlich zum Leben beitragen können, solange sie Freude und Trost bringen.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Ein Nachtgemälde“ des Autors Johann Gottfried Herder. Herder wurde im Jahr 1744 in Mohrungen (Ostpreußen) geboren. Das Gedicht ist im Jahr 1769 entstanden. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zu den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zu. Der Schriftsteller Herder ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen.

Die Epoche des Sturm und Drang reicht zeitlich etwa von 1765 bis 1790. Sie ist eine Strömung innerhalb der Aufklärung (1720–1790) und überschneidet sich teilweise mit der Epoche der Empfindsamkeit (1740–1790) und ihren Merkmalen. Häufig wird die Epoche des Sturm und Drang auch als Geniezeit oder Genieperiode bezeichnet. Die Klassik knüpft an die Literaturepoche des Sturm und Drang an. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dominierte der Geist der Aufklärung das literarische und philosophische Denken im deutschen Sprachraum. Der Sturm und Drang „stürmte“ und „drängte“ als Protest- und Jugendbewegung gegen die aufklärerischen Ideale. Ein wesentliches Merkmal des Sturm und Drang ist somit ein Rebellieren gegen die Epoche der Aufklärung. Die Autoren des Sturm und Drang waren zumeist Schriftsteller jüngeren Alters, häufig unter 30 Jahre alt. Die Autoren versuchten in den Dichtungen eine geeignete Sprache zu finden, um die subjektiven Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen. Die Nachahmung und Idealisierung von Autoren aus vergangenen Epochen wie dem Barock wurde abgelehnt. Die alten Werke wurden dennoch geschätzt und dienten als Inspiration. Es wurde eine eigene Jugendkultur und Jugendsprache mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Wiederholungen und Halbsätzen geschaffen. Goethe, Schiller und die anderen Autoren jener Zeit suchten nach etwas Universalem, was in allen Belangen und für jede Zeit gut sei und entwickelten sich stetig weiter. So ging der Sturm und Drang über in die Weimarer Klassik.

Richtungsweisend für die Literatur der Weimarer Klassik war die Französische Revolution. Menschen setzten sich dafür ein, dass für alle die gleichen Rechte gelten sollten. Der Beginn der Weimarer Klassik ist im Jahr 1786 auszumachen. Die Literaturepoche endete im Jahr 1832 mit dem Tod Goethes. Das Zentrum dieser Literaturepoche lag in Weimar. Es sind sowohl die Bezeichnungen Klassik als auch Weimarer Klassik gebräuchlich. Der Begriff Humanität ist von zentraler Bedeutung für die Zeit der Weimarer Klassik. Die wichtigsten inhaltlichen Merkmale der Klassik sind: Selbstbestimmung, Harmonie, Toleranz, Menschlichkeit und die Schönheit. Charakteristisch ist ein hohes Sprachniveau und eine reglementierte Sprache. Diese reglementierte Sprache verdeutlicht im Vergleich zum natürlichen Sprachideal der Literaturepoche des Sturm und Drang mit all seinen Derbheiten den Ausgleich zwischen Gefühl und Vernunft. Die Vertreter der Epoche haben in der Weimarer Klassik auf Gestaltungs- und Stilmittel aus der Antike zurückgegriffen. Die bedeutendsten Schriftsteller der Klassik sind Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller. Andere bekannte Schriftsteller der Klassik sind Christoph Martin Wieland und Johann Gottfried Herder. Die beiden zuletzt genannten arbeiteten aber jeweils für sich. Einen produktiven Austausch im Sinne eines gemeinsamen Arbeitsverhältnisses gab es nur zwischen Goethe und Schiller.

Das Gedicht besteht aus 90 Versen mit insgesamt 15 Strophen und umfasst dabei 410 Worte. Weitere bekannte Gedichte des Autors Johann Gottfried Herder sind „Bilder und Träume“, „Das Flüchtigste“ und „Das Gesetz der Welten im Menschen“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Ein Nachtgemälde“ weitere 413 Gedichte vor.

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