Sanct-Johannes-Nacht von Johann Gottfried Herder

Schönste Sommernacht!
Ich schwimm' in Rosen und blühenden Bohnen
Und duftenden Hecken und Nachtviolen,
In tausend Düften - o Natur,
Wo kenn' ich Deine Kinder alle,
Die Bräute alle,
Die jetzt sich schmücken und lieben und paaren
Und feiern Brautnacht! - Schöne Nacht!
Wie die Schöpfung flammet und wallt!
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Als ob der allanflammende Sonnenvater
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Mit welcher Jugendinbrunst jetzt
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Die Erd' umarmt'! - Und der Himmel brennt:
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Dort Abendroth, hier Morgenroth
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Wie kühler, dämmernder Thautag! - Und
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Und hundert Wesen schwirren empor
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In Luft und Wasser und See und Sand,
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Summen empor! Lieben! - Unendlich, ach,
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Unerschöpflich bist Du schön,
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Mutter Natur!
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Und hundertartige Deiner Kinder
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In Leben und Lieben und Sein und Freuden!
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Wer kann sie zählen! wer kann sie fühlen!
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Und Du,
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In hundert Arten und Sein und Wesen
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Und Lieb' und Freuden Dich
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Allfühlend, o Natur,
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Wie nenn' ich Dich?
 
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Wer bin ich unter den Millionen,
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Die jetzt genießen - und wer
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Unter den unendlichen Millionen,
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Die ich genießen nicht seh',
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In Blum', in Blüth', im wehenden Duft
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Der Nachtviole!
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Wie Tausende sind vielleicht,
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Die die Blüthe knospen! die Ros' erröthend
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Spinnen und färben und dufther schwimmen,
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Schwimmen um mich - kühlen mich,
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Und ich seh' sie nicht!
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Da fliegt der leuchtende Funke Gottes,
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Der Sommerwurm!
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Kleiner Wurm, leuchtender Funke, komm,
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Glänze mir!
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Wer warst Du, daß die schaffende Hand
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Dich also angeglüht?
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Mit Sonnenglanz, mit Sonnengluth!
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Wer bist Du?
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Etwa der Seligen einer? Ein
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Verbanneter Unsterblicher,
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Aus Raupenstand und Grabegespinnst
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Den Wurm zu erlösen.
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Und trägst noch Siegel der Unsterblichkeit
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Und glühst noch lang' im Tode noch fort
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Ziehst Blitzesfunken und duftest Feu'r,
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Nicht Strömen erlöschbar, die Gold,
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Die Felsen zernagen - Wunderwurm,
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Und kriechst im Staub!
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Fleuch! ich kenne Dich nicht! Wunderwurm!
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Lebe Dein Sommerleben im Flug,
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Im Staube! wie's Der will,
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Der Dich gemacht.
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Kenn' ich mich?
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Eben so klein, fliegend und wallend
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Und sonnentsprungen - kenn' ich mich?
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Wer war's, der Funken dem Staube gab,
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Daß er ihm vom Auge leucht',
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Erflamme vom Herzen,
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Oft so matt! und wie lang'?
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Und lodert er fort dann? - Fleuchst,
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Funke, Du fort?
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Aus Raupenstand, aus Grabesnacht,
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Wenn Dein Wurmkörper hier hin ist, noch
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Ein Würmchen zum Engel zu lösen?
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All' meine Sinne sind
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Verschlossen! - Um meine Sinn'
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Ist Sommernacht!
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Bin nicht zu denken hier! - zu sein! zu hoffen!
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Leben und mich zu freun!
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Leben - allein?
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Nicht ist der leuchtende Wurm,
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Wird nicht allein sein!
 
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Und allein mich freun?
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Niemand zu sagen, wie schön
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Im Sommerliebesbrande,
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Mutter Natur, Du seist!
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Mutter Natur!
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Niemand zu haben, der mit
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Schwirren die Schöpfung höre, mit
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Höre die leisen Räder gehn
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Und sehn
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Den leuchtenden Engel fliegen
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Und denken Unsterblichkeit!
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Vereint sie denken, vereint,
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Schöne Mutter Natur,
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Fühlen an Deiner Brust, uns drücken
95 
An warmes Herz!
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Freundschaft, holdester Funke
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Der holden Natur!
98 
In heiliger Nacht, in Zaubernacht,
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Mutter Natur, bet' ich Dich an!
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Sei ich's werth des edelsten Funken,
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All Deiner Flammennatur!
102 
Komme, mein leuchtender Engel,
103 
Den Wurm zu beleben!
104 
Zauberlaube, Wo seh' ich Dich?
105 
Und um mich gegossen
106 
Mein sanftes Weib!
107 
Zauberlaube,
108 
Wo seh' ich Dich?
109 
Rosen und Mondstrahl um Dich schwimmend
110 
Und liebender Wachtelschlag,
111 
Zauberlaub', und der Knabe hängt
112 
An Mutterarm! An Mutterbrust
113 
Ihr gleich das sanftere Mädchen!
114 
Und der wilde, trotzige Knabe lernt
115 
Staunen der Sommernacht! hören Gott,
116 
Hören schwirren und liebegirren
117 
Die Schöpfung!
118 
Sanfter bebet alsdann die Mutterbrust,
119 
Sanfter schmieget der Säugling, trinkt
120 
Wollust Gottes, und ich - und ich
121 
Zauberlaube, wie bin ich allein!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (33.3 KB)

Details zum Gedicht „Sanct-Johannes-Nacht“

Anzahl Strophen
3
Anzahl Verse
121
Anzahl Wörter
571
Entstehungsjahr
1744 - 1803
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Sanct-Johannes-Nacht“ wurde von Johann Gottfried Herder verfasst, einem bedeutenden Dichter und Denker der deutschen Aufklärung und Strömungsvertreter der Weimarer Klassik und der Sturm und Drang Periode. Er lebte von 1744 bis 1803, was das Gedicht zeitlich in das 18. Jahrhundert einordnet.

Auf den ersten Eindruck erweckt das Gedicht einen starken Eindruck von Naturverbundenheit und romantischer Sehnsucht. Es erzählt in freiem Vers von der Schönheit der Natur, die Schwärme von Insekten und verschiedenen Düften in Szene setzt und so eine lebendige Atmosphäre einer Sommernacht erschafft.

Im ersten Teil des Gedichts beschreibt das lyrische Ich die überschwängliche Natur in einer Sommernacht, betont die Schönheit der Natur und ihre Vielfalt. Im zweiten Teil reflektiert das lyrische Ich seine eigene Position inmitten der unermesslichen Natur. Dabei wird die Natur fast wie ein übernatürliches, gottähnliches Wesen dargestellt, das die Autorität hat, Leben hervorzubringen und zu beeinflussen. Gleichzeitig beklagt das lyrische Ich sich über seine Einsamkeit, unterstreicht aber die Hoffnung auf die Liebe und Gemeinschaft, auf das „sanfte Weib“ und das gemeinsame Erschaffen von Leben.

Formal gesehen, folgt das Gedicht keinem strikten Reim- und Rhythmusmuster, was der Epoche der freien Dichtung entspricht. Der überwiegend freie Vers gibt dem Dichter die Freiheit, den natürlichen Rhythmus der Sprache zu folgen und Themen von großer Emotionalität und Subjektivität aufzugreifen.

Die Sprache des Gedichts ist hochpoetisch und bildreich, mit vielen Metaphern und Personifikationen der Natur, was den romantischen Charakter des Gedichts betont. Dabei wird die Natur oft feminisiert und als „Mutter Natur“ bezeichnet, was die Rolle der Natur als Schöpferin des Lebens unterstreicht.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Herders „Sanct-Johannes-Nacht“ eine tiefgehende, romantische und ehrfürchtige Auseinandersetzung mit der Natur, dem Leben und der eigenen Identität ist. Es verdeutlicht Herders Auffassung von Natur und Menschlichkeit und seiner Suche nach Zugehörigkeit und Gemeinschaft.

Weitere Informationen

Johann Gottfried Herder ist der Autor des Gedichtes „Sanct-Johannes-Nacht“. Der Autor Johann Gottfried Herder wurde 1744 in Mohrungen (Ostpreußen) geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes liegt zwischen den Jahren 1760 und 1803. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Sturm & Drang oder Klassik kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Bei dem Schriftsteller Herder handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Die Epoche des Sturm und Drang ist eine Strömung in der deutschen Literaturgeschichte, die häufig auch als Genieperiode oder Geniezeit bezeichnet wird. Die Literaturepoche ordnet sich nach der Epoche der Empfindsamkeit und vor der Klassik ein. Sie lässt sich auf die Zeit zwischen 1765 und 1790 eingrenzen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dominierte der Geist der Aufklärung das literarische und philosophische Denken im deutschen Sprachraum. Der Sturm und Drang „stürmte“ und „drängte“ als Jugend- und Protestbewegung gegen diese aufklärerischen Ideale. Ein wesentliches Merkmal des Sturm und Drang ist somit ein Rebellieren gegen die Epoche der Aufklärung. Die Vertreter waren meistens junge Autoren, zumeist nicht älter als 30 Jahre. Die Schriftsteller versuchten in den Gedichten eine geeignete Sprache zu finden, um die subjektiven Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen. Es wurde eine eigene Jugendsprache und Jugendkultur mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Halbsätzen und Wiederholungen geschaffen. Die alten Werke vorangegangener Epochen wurden dennoch geschätzt und dienten als Inspiration. Die Epoche des Sturm und Drang endete mit der Hinwendung Schillers und Goethes zur Weimarer Klassik.

Einer der wichtigsten Autoren der deutschen Klassik ist Johann Wolfgang von Goethe (* 28. August 1749 in Frankfurt am Main; † 22. März 1832 in Weimar). Seine Italienreise im Jahr 1786 wird als Beginn der Weimarer Klassik angesehen. Johann Wolfgang von Goethe prägte die Klassik ganz wesentlich. Sein Todesjahr (1832) kennzeichnet gleichzeitig das Ende dieser Epoche. Sowohl die Bezeichnung Klassik als auch die Bezeichnung Weimarer Klassik sind gebräuchlich. Das literarische Zentrum dieser Epoche lag in Weimar. Humanität, Güte, Gerechtigkeit, Toleranz, Gewaltlosigkeit und Harmonie sind die wichtigsten Themen. Die Weimarer Klassik orientiert sich am antiken Kunstideal. In der Weimarer Klassik wird eine sehr einheitliche, geordnete Sprache verwendet. Kurze, allgemeingültige Aussagen sind häufig in Werken der Weimarer Klassik zu finden. Da man die Menschen früher mit der Kunst und somit auch mit der Literatur erziehen wollte, legte man großen Wert auf formale Ordnung und Stabilität. Metrische Ausnahmen befinden sich oftmals an Stellen, die hervorgehoben werden sollen. Goethe, Schiller, Herder und Wieland können als die Hauptvertreter der Weimarer Klassik genannt werden. Aber nur Goethe und Schiller inspirierten und motivierten einander durch intensive Zusammenarbeit und wechselseitige Kritik.

Das vorliegende Gedicht umfasst 571 Wörter. Es baut sich aus 3 Strophen auf und besteht aus 121 Versen. Die Gedichte „Bilder und Träume“, „Das Flüchtigste“ und „Das Gesetz der Welten im Menschen“ sind weitere Werke des Autors Johann Gottfried Herder. Zum Autor des Gedichtes „Sanct-Johannes-Nacht“ haben wir auf abi-pur.de weitere 413 Gedichte veröffentlicht.

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