Eine Bilderfabel für Goethe von Johann Gottfried Herder

Hinangeflogen da kam ein Specht
Von Frankfurt wol am Main;
Der klatschte mit den Flügeln recht
Und lachte froh darein.
Es war ein bunter lieber Specht;
Singt Alle, singt darein:
 
Chor.
 
Bunter Specht! lieber Specht!
Von Frankfurt wol am Main!
 
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Und in Westphal'n in wildem Wald,
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Wo einst Herr Hermann schlug,
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Da saß ein armer junger Falk,
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Zu früh gelähmt im Flug,
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Zerknickt sein Flügel nur zu bald!
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Darum der wilde Wald erschallt;
 
16 
Chor.
 
17 
Armer Falk! armer Falk!
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Zu früh gelähmt und bald!
 
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Der Specht stolzirte hoch daher
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Und schlug sein Flügelpaar.
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Eia! ein lust'ger, muntrer Häh'r,
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Ein Specht, wie einer war.
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Und hackt im Baum und klimmt daher,
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Klimmt immer höh'r und immer höh'r.
 
25 
Chor.
 
26 
Lust'ger Häh'r! muntrer Häh'r!
27 
Ein Specht, wie einer war!
 
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Und schnell mit Spechtstriumph und List
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Trat er zum Falk hinan:
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»Das ist, wenn man ein Falke ist,
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Ein Raubthier, guter Mann;
32 
Was man da speculiren thut,
33 
Ist Alles wahr, ist Alles gut.«
 
34 
Chor.
 
35 
Dünkt Adeler sich, Jupiter,
36 
Wenn man kaum Falke ist!
 
37 
Der arme Falk, er seufzte tief;
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Sein Flügel hing ihm schwer:
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»Das wol kein Bruder aus Dir rief,
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Du schöner, bunter Häh'r!
41 
Lob' ich nicht Deiner Farben Zier,
42 
Nußkern und Rindlein lasse Dir?«
 
43 
Chor.
 
44 
Bunter Specht! Apollo's Specht!
45 
Und seiner Leyer Zier!
 
46 
»Ich aber - Haupt und Flügel sinkt
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Wie blutig mir und schwer!
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Und dem es sonst denn auch gelingt,
49 
Der Blick - nun dunkelt er.
50 
Und eine matte Wolke zieht
51 
Sich ums unschließbar Augenlid.«
 
52 
Chor.
 
53 
»Armer Falk! armer Falk!«
54 
Schallt ringsumher der Wald.
 
55 
Und da trittst Du verachtend an
56 
Und höhnst sein Erdgewand
57 
Und gaffst den Sträuberücken an
58 
Und seine schlaffe Hand
59 
Und willst ihm Deines Jäckchens Tracht,
60 
Dein Lustgeschrei und Häherjagd.
 
61 
Chor.
 
62 
Schöner Specht! braver Specht!
63 
Das war als Specht gedacht!
 
64 
Mein Freund, auch über Falks Natur
65 
Und Treu und G'nügsamkeit,
66 
Was geht da, lieber Häher, nur,
67 
Und Blick und Wachsamkeit!
68 
Strafloser Hort - und edeler
69 
Ist Falkenweib und schön'r als er.
 
70 
Chor.
 
71 
Bunter Specht! lieber Specht!
72 
Wie? wenn er Falk Dir wär'?
 
73 
Wie wenn, dem Flügel nun und Blick
74 
Und Geist im Staube ruht,
75 
Mit Feuerflamme schnell zurück
76 
Rückkehrte Jugendblut?
77 
Und - und ein Luftzug kam und schwang
78 
Den Falken frisch empor.
 
79 
Chor.
 
80 
Bunter Specht! schöner Specht!
81 
Wo sich - Herr - Specht - ver - lor.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (30.2 KB)

Details zum Gedicht „Eine Bilderfabel für Goethe“

Anzahl Strophen
27
Anzahl Verse
81
Anzahl Wörter
379
Entstehungsjahr
1744 - 1803
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Der Autor des Gedichts ist Johann Gottfried Herder, ein wichtiger Vertreter der Weimarer Klassik und Wegbereiter der Romantik, geboren 1744 und gestorben 1803. Das Gedicht wurde Johann Wolfgang von Goethe gewidmet, einem engen Freund und Kollegen.

Vom ersten Eindruck wirkt das Gedicht wie eine Fabel, in der Tiere - ein Specht und ein Falke - menschliche Charaktere und Eigenschaften angenommen haben. Der Specht wird als ein fröhlicher und lebhafter Charakter dargestellt, während der Falke als ein verletzter, bruderhafter Charakter dargestellt wird.

Zunächst wird ein fröhlicher, bunter Specht, der von Frankfurt am Main kommt, vorgestellt. Er fliegt froh und singend. In Westphalen sitzt ein junger Falke, der frühzeitig an Flugfähigkeit verliert. Der Specht präsentiert sich stolz und verhöhnt den armen Falken, der den schönen, bunten Specht lobt, trotz seiner eigenen Misere. Die letzte Strophe deutet darauf hin, dass der Falke seine Vitalität wiederfinden könnte.

In Bezug auf Form und Sprache ist das Gedicht hauptsächlich in jambischen Dimetern, mit gelegentlichen Abweichungen, geschrieben. Das Gedicht kann in drei Teile unterteilt werden und ist im Sinne der Alexandriner-Dichtung sehr rhythmisch. Es verwendet einen Reim, um den Fluss des Gedichts zu unterstützen und ein angenehmes Tempo zu schaffen. Die Sprache ist frühneuhochdeutsch mit einigen archaischen Begriffen. Die Verwendung von Tierfiguren erlaubt es Herder, menschliche Attribute und Verhaltensweisen zu diskutieren und zu kritisieren, was einen kritischen Aspekt des Gedichts einbringt.

Dieses Gedicht scheint eine metaphorische Darstellung der Beziehung zwischen Herder und Goethe zu sein. Herder vertritt möglicherweise den Falken und Goethe den Specht und es geht wohl möglicherweise um Goethes Erfolg und Herders vermeintliches Scheitern oder seinen relativ zurückhaltenden Erfolg. Beide gaben sowohl ihre Bewunderung als auch ihre Kritik aneinander in ihrer Korrespondenz zum Ausdruck, was sich auch in diesem Gedicht widerspiegeln könnte.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Eine Bilderfabel für Goethe“ des Autors Johann Gottfried Herder. 1744 wurde Herder in Mohrungen (Ostpreußen) geboren. Das Gedicht ist in der Zeit von 1760 bis 1803 entstanden. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zu den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zu. Bei dem Schriftsteller Herder handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Der Sturm und Drang (häufig auch Geniezeit oder Genieperiode genannt) ist eine literarische Epoche, welche zwischen 1765 und 1790 existierte und an die Empfindsamkeit anknüpfte. Später ging sie in die Klassik über. Der Sturm und Drang war eine Protestbewegung, die aus der Aufklärung hervorging. Der Protest richtete sich gegen den Adel und dessen höfische Welt, sowie andere absolutistische Obrigkeiten. Er richtete sich aber auch gegen das Bürgertum, das als freudlos und eng galt, und dessen Moralvorstellungen veraltet waren. Als Letztes richtete sich der Protest der Epoche des Sturm und Drang gegen Traditionen in der Literatur. Die Schriftsteller der Epoche des Sturm und Drangs waren häufig unter 30 Jahre alt. Um die subjektiven Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen, wurde insbesondere darauf geachtet eine geeignete Sprache zu finden und in den Gedichten einzusetzen. Die Nachahmung und Idealisierung von Schriftstellern aus vergangenen Epochen wie dem Barock wurde abgelehnt. Die traditionellen Werke wurden dennoch geschätzt und dienten als Inspiration. Es wurde eine eigene Jugendkultur und Jugendsprache mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Wiederholungen und Halbsätzen geschaffen. Die Epoche des Sturm und Drang endete mit der Hinwendung Schillers und Goethes zur Weimarer Klassik.

Die Weimarer Klassik war geprägt durch die Französische Revolution mit ihren Forderungen nach Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit. Der Kampf um eine Verfassung, die revolutionäre Diktatur unter Robespierre und der darauffolgende Bonapartismus führten zu den Grundstrukturen des 19. Jahrhundert (Nationalismus, Liberalismus und Imperialismus). Die Literaturepoche der Weimarer Klassik lässt sich zeitlich mit Goethes Italienreise im Jahr 1786 und mit Goethes Tod 1832 eingrenzen. Literarisches Zentrum und Ausgangspunkt der Weimarer Klassik (kurz auch oftmals einfach nur Klassik genannt) war Weimar. Statt auf Widerspruch und Konfrontation wie noch in der Aufklärung oder im Sturm und Drang strebte die Klassik nach Harmonie. Die wichtigsten Werte sind Menschlichkeit und Toleranz. Die Klassik orientierte sich an klassischen Vorbildern aus der Antike. Ziel der Klassik war es die ästhetische Erziehung des Menschen zu einer „charakterschönen“ Persönlichkeit voranzutreiben. In der Lyrik haben die Autoren auf Stil- und Gestaltungsmittel aus der Antike zurückgegriffen. So war beispielsweise die streng an formale Kriterien gebundene Ode besonders beliebt. Außerdem verwendeten die Dichter eine pathetische, gehobene Sprache. Die bekanntesten Vertreter der Weimarer Klassik sind: Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Johann Gottfried von Herder und Christoph Martin Wieland.

Das 379 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 81 Versen mit insgesamt 27 Strophen. Weitere Werke des Dichters Johann Gottfried Herder sind „An die Freundschaft“, „Apollo“ und „Bilder und Träume“. Zum Autor des Gedichtes „Eine Bilderfabel für Goethe“ haben wir auf abi-pur.de weitere 413 Gedichte veröffentlicht.

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