Ein altes, blindes Weib lag krank von Johann Gottfried Herder

Ein altes, blindes Weib lag krank;
Die Aerzte docterten sie lang',
Und jeder nahm für jeden Gang
Ein Stückchen Hausrath mit zum Dank.
So ging's ein' Weile hin und her;
Das Weib ward seh'nd, das Haus war leer.
»Bezahlt uns nun für viele Kunst und Müh!«
»Ach!« sagte sie,
»Trotz meines neuen Angesichts,
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Ihr Herrn, seh' ich jetzt - nichts.«
 
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Der alte, blinde Mensch liegt krank,
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Ihr Herren doctert ihn so lang'
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Mit Syllogismus-Arzenei,
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Metaphysik, Politik bei,
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Und nehmt ihm allen Saft und Kraft,
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Und wo und wie er etwas schafft;
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Nun sieht er - Himmel, ei!
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Kraft Euers neuen Angesichts,
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Ihr Herrn, sieht er nun - nichts!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (24.5 KB)

Details zum Gedicht „Ein altes, blindes Weib lag krank“

Anzahl Strophen
2
Anzahl Verse
19
Anzahl Wörter
108
Entstehungsjahr
1744 - 1803
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Ein altes, blindes Weib lag krank“ wurde von Johann Gottfried Herder verfasst, einem Dichter und Denker des 18. Jahrhunderts, der für seine kritische Auseinandersetzung mit der intellektuellen und sozialen Situation seiner Zeit bekannt ist. Aufgrund der Lebensdaten des Autors können wir das Gedicht zeitlich der Epoche der Aufklärung zuordnen.

Von einem ersten Eindruck aus kann man sagen, dass das Gedicht einen beißenden Sarkasmus und eine kritische Sicht auf die damalige Gesellschaft zeigt. Es scheint, als würde Herder eine Allegorie verwenden, um das Fehlverhalten und den Missbrauch von Macht und Vertrauen durch die Oberschicht darzustellen.

Das Gedicht erzählt in zwei Strophen die Geschichte einer alten, blinden und kranken Frau bzw. eines Mannes. Sie werden von Ärzten behandelt, die jedes Mal, wenn sie kommen, etwas aus dem Haushalt mitnehmen. Am Ende sind die Patienten zwar wieder sehend, aber ohne Besitz. Sie bemerken, dass sie wieder „nichts“ sehen können, was auf ihre ausgebeuteten Lebensverhältnisse hinweist.

Die verwendeten Metaphern und Allegorien im Gedicht sind eine indirekte Kritik an den Ärzten und der damaligen Gesellschaft. Das „doktern“ und das „mitnehmen von Hausrat“ kann als Symbol für Ausbeutung und Korruption verstanden werden. Die Ärzte repräsentieren die Oberschicht, die die Schwachen und Kranken ausbeutet.

Die Form und Sprache des Gedichts sind einfach und unkompliziert, was den Sarkasmus und die Kritik des Autors unterstreicht. Die Reime sorgen für einen fließenden Rhythmus und bringen die Botschaft klar und deutlich rüber. Die wiederholte Phrase „sieht er nun - nichts“ am Ende jeder Strophe unterstreicht die hoffnungslose Situation der Patienten und den zynischen Ton des Gedichts.

Weitere Informationen

Johann Gottfried Herder ist der Autor des Gedichtes „Ein altes, blindes Weib lag krank“. Der Autor Johann Gottfried Herder wurde 1744 in Mohrungen (Ostpreußen) geboren. Das Gedicht ist in der Zeit von 1760 bis 1803 entstanden. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zuordnen. Herder ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen.

Der Sturm und Drang (häufig auch Geniezeit oder Genieperiode genannt) ist eine literarische Epoche, welche zwischen 1765 und 1790 existierte und an die Empfindsamkeit anknüpfte. Später ging sie in die Klassik über. Die Literaturepoche des Sturm und Drang war eine Protestbewegung, die aus der Aufklärung hervorging. Der Protest richtete sich gegen den Adel und dessen höfische Welt, sowie andere absolutistische Obrigkeiten. Er richtete sich darüber hinaus auch gegen das Bürgertum, das als eng und freudlos galt, und dessen Moralvorstellungen veraltet waren. Als Letztes richtete sich der Protest der Epoche des Sturm und Drang gegen Traditionen in der Literatur. Bei den Autoren handelte es sich meist um junge Schriftsteller. Meist waren sie unter 30 Jahre alt. Um die persönlichen Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen, wurde insbesondere darauf geachtet eine geeignete Sprache zu finden und in den Gedichten einzusetzen. Die alten Werke vorheriger Epochen wurden geschätzt und dienten als Inspiration. Dennoch wurde eine eigene Jugendsprache und Jugendkultur mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Halbsätzen und Wiederholungen geschaffen. Die Epoche des Sturm und Drang endete mit der Hinwendung Schillers und Goethes zur Weimarer Klassik.

Die Weimarer Klassik war beeinflusst worden durch die Französische Revolution mit ihren Forderungen nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Der Kampf um eine Verfassung, die revolutionäre Diktatur unter Robespierre und der darauffolgende Bonapartismus führten zu den Grundstrukturen des 19. Jahrhundert (Nationalismus, Liberalismus und Imperialismus). Die Literaturepoche der Weimarer Klassik lässt sich zeitlich mit der Italienreise Goethes im Jahr 1786 und mit dem Tod Goethes 1832 eingrenzen. Wie der Name bereits verrät, liegen der Ausgangspunkt und das literarische Zentrum der Weimarer Klassik, die auch kurz Klassik genannt wird, in Weimar. Zum Teil wird auch Jena als ein weiteres Zentrum der Literaturepoche angesehen. Die Autoren der Weimarer Klassik wollten die antiken Stoffe aufleben lassen. Mit der antiken Kunst beschäftigte sich Goethe während seiner Italienreise. Die Antike gilt nun als Ideal, um Harmonie und Vollkommenheit erreichen zu können. Typisch ist ein hohes Sprachniveau und eine reglementierte Sprache. Diese reglementierte Sprache verdeutlicht im Vergleich zum natürlichen Sprachideal der Literaturepoche des Sturm und Drang mit all seinen Derbheiten den Ausgleich zwischen Vernunft und Gefühl. Die Dichter haben in der Klassik auf Gestaltungs- und Stilmittel aus der Antike zurückgegriffen. Die wichtigen Vertreter der Klassik sind: Friedrich Schiller, Johann Wolfgang von Goethe, Christoph Martin Wieland und Johann Gottfried von Herder.

Das vorliegende Gedicht umfasst 108 Wörter. Es baut sich aus 2 Strophen auf und besteht aus 19 Versen. Die Gedichte „Das Glück“, „Das Kind der Sorge“ und „Das Orakel“ sind weitere Werke des Autors Johann Gottfried Herder. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Ein altes, blindes Weib lag krank“ weitere 413 Gedichte vor.

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