In jener goldnen Zeit von Johann Gottfried Herder

In jener goldnen Zeit,
Da Thier' und Menschen vetterliche Schaaren
Und Schwätzer und Gesellen waren,
Und Aelterbruder Mensch ihr Vormund weit und breit,
Ein Vormund mit Verstand und Lieb' und Treu:
Er sah an Jedes Stirn, was in ihm sei,
Und lenkt's an seiner Hand, wie Gott die Menschen lenkt,
In Jedes eignem Hirn, daß Jeder denkt:
»Wie bin ich frei!«
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Und Weisheit spielet' auf der Erde
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In Allem, was nur lebt und webt;
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Der Mensch empfand: »Was lebt und webt,
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Spricht, handelt mir, damit ich weise werde!«
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Und er erhebt
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Vor Allem sich empor und fühlt sich Gottesbild,
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Mit Vaters Blick und Wort erfüllt;
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»Daß,« spricht er, »mir die Erde
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Gehorsam werde,
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Begabet bin ich mit Verstand.«
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Stracks fiel sein Blick aufs irdische Gewand,
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Und wie verhüllt
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Des Vaters ewige Gewalt
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In Thiergestalt!
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»Damit ich,« sprach sein innres Mitgefühl,
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»Im großen Erdgewühl
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Mit Thieren Thier, von Allen Bruder werde,
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Ein Herr und Knecht der Erde!«
 
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Sieh, Mensch, der Fabel Ziel
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Und Amt und Bild:
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Dein Weisheitblick hat ohne Mitgefühl
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Sein Loos nur halb erfüllt.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.1 KB)

Details zum Gedicht „In jener goldnen Zeit“

Anzahl Strophen
2
Anzahl Verse
31
Anzahl Wörter
175
Entstehungsjahr
1744 - 1803
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Das vorgelegte Gedicht „In jener goldnen Zeit“ ist vom deutschen Dichter Johann Gottfried Herder, einer zentralen Figur der Weimarer Klassik und der Aufklärung, geschrieben worden. Herder lebte von 1744 bis 1803, wodurch das Gedicht in der literarischen Epoche der Aufklärung oder frühromanischen Periode des 18. Jahrhunderts einzuordnen ist.

Der erste Eindruck des Gedichts weckt Assoziationen zu einer idealisierten vergangenen Zeit, in der Harmonie und Einheit zwischen Mensch und Natur sowie den Tieren herrschte. Das lyrische Ich reflektiert diese als goldene Zeit beschriebenen Umstände und formuliert eine kritische Sicht auf das gegenwärtige Verhältnis zwischen Mensch und Natur.

In einfachen Worten gesagt, erzählt das Gedicht von einer Zeit, in der Menschen und Tiere in Bruderschaft zusammenlebten und sich der Mensch als ein Teil der Natur und nicht als ihr Herr verstand. Es thematisiert eine Art Paradiesvorstellung, in welcher der Mensch seine Umwelt als gleichberechtigt anerkannte und in gegenseitigem Respekt und Fürsorge mit ihr interagierte. Das lyrische Ich suggeriert, dass der Mensch in dieser Zeit Weisheit und Liebe für seine Umwelt empfand. Es ruft den Leser auf, sich dieses idealisierten Zustands bewusst zu werden und menschliche Weisheit mit Mitgefühl zu verbinden.

Die Form des Gedichts ist nicht regelmäßig. Es besteht aus langen Versen, die keinen formalen Reim- oder Metrumschema folgen, was auf eine freie Versform schließen lässt. Der sprachliche Stil ist archaisierend und erhaben, typisch für das 18. Jahrhundert. Die Sprache ist metaphorisch und voller Symbolik, wodurch das Bild einer harmonischen und idealisierten Vergangenheit erzeugt wird. Bemerkenswert ist die verwendete Tiermetaphorik, die die Verbundenheit zwischen Mensch und Natur darstellt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass dieses Gedicht eine Kritik an der Entfremdung des Menschen von der Natur darstellt und zur Selbstreflexion des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur einlädt. Dabei appelliert es an den Leser, Weisheit nicht losgelöst von Mitgefühl zu betrachten und das menschliche Handeln im Einklang mit der Natur auszurichten.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „In jener goldnen Zeit“ des Autors Johann Gottfried Herder. Herder wurde im Jahr 1744 in Mohrungen (Ostpreußen) geboren. In der Zeit von 1760 bis 1803 ist das Gedicht entstanden. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Sturm & Drang oder Klassik kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Herder ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen.

Sturm und Drang ist die Bezeichnung für die Literaturepoche in den Jahren von etwa 1765 bis 1790 und wird häufig auch zeitgenössische Genieperiode oder Geniezeit genannt. Diese Bezeichnung entstand durch die Verherrlichung des Genies als Urbild des höheren Menschen und Künstlers. Die Epoche des Sturm und Drang knüpft an die Empfindsamkeit an und geht später in die Klassik über. Der Sturm und Drang war die Phase der Rebellion junger deutscher Autoren, die sich gegen die Prinzipien der Aufklärung und das gesellschaftliche System wendeten. Die Autoren des Sturm und Drang waren zumeist Schriftsteller jüngeren Alters, häufig unter 30 Jahre alt. In den Dichtungen wurde darauf geachtet eine geeignete Sprache zu finden, um die persönlichen Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen. Es wurde eine eigene Jugendsprache und Jugendkultur mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Halbsätzen und Wiederholungen geschaffen. Die alten Werke vorangegangener Epochen wurden dennoch geschätzt und dienten als Inspiration. Mit dem Hinwenden Goethes und Schillers zur Weimarer Klassik endete der Sturm und Drang.

Die Weimarer Klassik war beeinflusst worden durch die Französische Revolution mit ihren Forderungen nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Der Kampf um eine Verfassung, die revolutionäre Diktatur unter Robespierre und der darauffolgende Bonapartismus führten zu den Grundstrukturen des 19. Jahrhundert (Nationalismus, Liberalismus und Imperialismus). Die Literaturepoche der Weimarer Klassik lässt sich zeitlich mit der Italienreise Goethes im Jahr 1786 und mit dem Tod Goethes 1832 eingrenzen. Die Weimarer Klassik wird häufig nur als Klassik bezeichnet. Beide Bezeichnungen werden in der Literatur genutzt. Humanität, Güte, Gerechtigkeit, Toleranz, Gewaltlosigkeit und Harmonie sind die bedeutenden Themen. Die Weimarer Klassik orientiert sich am antiken Kunstideal. In der Gestaltung wurde das Wesentliche, Gültige, Gesetzmäßige sowie der Ausgleich und die Harmonie gesucht. Im Gegensatz zum Sturm und Drang, wo die Sprache häufig roh und derb ist, bleibt die Sprache in der Weimarer Klassik den sich selbst gesetzten Regeln treu. Die wichtigsten Schriftsteller der Klassik sind: Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Johann Gottfried von Herder und Christoph Martin Wieland.

Das 175 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 31 Versen mit insgesamt 2 Strophen. Die Gedichte „Das Glück“, „Das Kind der Sorge“ und „Das Orakel“ sind weitere Werke des Autors Johann Gottfried Herder. Zum Autor des Gedichtes „In jener goldnen Zeit“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 413 Gedichte vor.

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