Zerstreute hund- und hirtenlose Heerde von Johann Gottfried Herder

Zerstreute hund- und hirtenlose Heerde,
Weh Dir! da brüllt ein Leu.
»Wo sind nun unsre Hirten?
Ach, wie wir uns verirrten!
Der sel'ge Hund, er war so treu
Und stark dabei,
Und wir ergaben, dumme Heerde,
Dem Wolf ihn! Nun vorbei!
Da kommt der Leu!«
 
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Ihr Deutsche, wo ist Euer Huß
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Und Sickingen und Hutten blieben?
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Sind aufgerieben!
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Der deutschen Freiheit Morgengruß!
 
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»Wir wollen unsre Rednerslust,
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Den Widder, an ihn senden;
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Er ist von guten Lenden
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Und breiter Brust
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Und bellt nicht so und treibt nicht so,
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Als Hund und Hirte thaten.«
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Deß seid Ihr wohlberathen,
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Deß werdet froh!
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Der Wollen-Cicero
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Trabt zitternd stolz entgegen
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Der brüll'nden Majestät.
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»Da will ich recht, hilft's Gott, mein Exercitium
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Als Rednerpatriot ablegen
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In omne saeculi futuri gaudium:
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'Heil Dir, o König! Welche Erde
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Dich nur empfäht,
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Die weiht Dir Segen!
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Damit ich aber jetzt, o sanfte Majestät,
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Auf meine Heerde,
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Deretwegen
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Ich denn -'« Löwens Angesicht
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Macht augenblicks ihn stumm.
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»Nun, Seine Heerde
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Herr Demosthen, und weiter kann Er nicht
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Im Exercitium?
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Heraus nur! Seine Heerde
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Weiht Uns von ferne Segen
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Und will Uns nicht!
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Wir aber wollen sie
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Und geben Uns die Müh
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Und kommen, Unsern Segen
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Geruhend Höchst Wir selbst ihr nah vors Angesicht
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In Gnaden vorzulegen.«
 
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Schulciceronen
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Der neuen Rednerei
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An Rectorats- und Galatägen,
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In Redners Munde Heil und Segen,
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Musik dabei!
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Und auf Kathederthronen,
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Ihr Ciceronen,
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Seid Ihr nicht frei???
 
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»Wend' Er Sich hinter Uns, Ambassadeur!«
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Und sieht ihn quer
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Erschrecklich an. Der Bock geht ohn' Beschwer
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Hinter ihm her.
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Der Leu schritt weiter hin.
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»Sieh, wie sie fliehn!
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Dazu nun, bärt'ger Herr, verschoneten Wir Ihn.
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Geh Er, und sag Er: Wir belieben,
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Daß sie sich nicht zerstieben,
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Und führ Er sie uns her!«
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Der Bock thut's ohn' Beschwer;
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Und sagt man, hat er sich hier mehr gebläht,
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Orator jetzt für Königs Majestät,
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Als einst für all sein Heer.
 
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Demosthenes und Cicero
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Man sagt, sie machten's ohngefährlich so!
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Und Du, Frau Freiheitkaklerin
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Zu unsrer Zeit, kakl' immerhin!
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Der Löwe hört Dich nicht,
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Er spricht Dich nicht!
 
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Und wir in jubilo,
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Wir singen Löwens Angesicht
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Und sahn es nicht
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Und sehn es nicht,
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Wie einst Octavio
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Sein Freund und Zecher sang Io!
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Und er versteht uns nicht.
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Io! io!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (30.2 KB)

Details zum Gedicht „Zerstreute hund- und hirtenlose Heerde“

Anzahl Strophen
7
Anzahl Verse
82
Anzahl Wörter
369
Entstehungsjahr
1744 - 1803
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Dieses Gedicht wurde von Johann Gottfried Herder verfasst, der von 1744 bis 1803 lebte und einer der Schlüsselfiguren der deutschen Literaturbewegung „Sturm und Drang“ war. Daher lässt sich das Gedicht zeitlich in die Phase des literarischen Sturms und Drangs einordnen, welcher von etwa 1765 bis 1785 andauerte.

Der erste Eindruck des Gedichts erzeugt Bilder von Verwirrung, Angst und Machtlosigkeit inmitten von Chaos und Bedrohung. Der Dichter nutzt metaphorische Bilder wie die zerstreute, hund- und hirtenlose Herde (Strophe 1), um die Idee von Anführer-mangelnder Gemeinschaft zu vermitteln, die durch das Auftreten eines Löwen bedroht wird - ein Symbol für Macht und Autorität.

Herders Gedicht scheint sich auf die gesellschaftliche und politische Situation des deutschen Volkes zu beziehen, indem es auf historische Figuren wie Jan Hus und Ulrich von Hutten (Strophe 2) hinweist, die als Wächter der deutschen Freiheit angesehen wurden. Die Verweise auf Redner und Cicero in späteren Strophen könnten die Bedeutung der Rhetorik als politisches Werkzeug hervorheben.

In Bezug auf Sprache und Form ist dieses Gedicht sehr rhythmisch und verwendet eine Kombination aus Reim und Metrik, um den Fluss und den Klang zu steuern. Die Sprache ist archaisch und formal und verwendet teils lateinische Wendungen, was auf die Bildung des Autors und das gelehrte Publikum hinweist, für das das Gedicht wahrscheinlich bestimmt war.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Gedicht von Herder eine lebendige und emotionale Darstellung der damaligen politischen Realitäten darstellt, eingebettet in Metaphern und Anspielungen, die den Leser zum Nachdenken und zur Interpretation auffordern. Durch die Verwendung von kraftvollen Bildern und sprachlicher Spielereien thematisiert Herder die Probleme von Führung, Macht und Freiheit in der Gesellschaft seiner Zeit.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Zerstreute hund- und hirtenlose Heerde“ ist Johann Gottfried Herder. 1744 wurde Herder in Mohrungen (Ostpreußen) geboren. Im Zeitraum zwischen 1760 und 1803 ist das Gedicht entstanden. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zugeordnet werden. Bei Herder handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Der Sturm und Drang (häufig auch Geniezeit oder Genieperiode genannt) ist eine literarische Epoche, welche zwischen 1765 und 1790 existierte und an die Empfindsamkeit anknüpfte. Später ging sie in die Klassik über. Die wesentlichen Merkmale des Sturm und Drang lassen sich als ein Rebellieren oder Auflehnen gegen die Aufklärung zusammenfassen. Das literarische und philosophische Leben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und die Literatur sollten dadurch maßgeblich beeinflusst werden. Die Vertreter der Epoche des Sturm und Drang waren häufig Schriftsteller im jungen Alter, die sich gegen die vorherrschende Strömung der Aufklärung wandten. Um die persönlichen Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen, wurde besonders darauf geachtet eine geeignete Sprache zu finden und in den Gedichten einzusetzen. Es wurde eine eigene Jugendsprache und Jugendkultur mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Halbsätzen und Wiederholungen geschaffen. Die traditionellen Werke vorangegangener Epochen wurden dennoch geschätzt und dienten als Inspiration. Die Epoche des Sturm und Drang endete mit der Hinwendung Schillers und Goethes zur Weimarer Klassik.

Die Literaturepoche der Weimarer Klassik dauerte von 1786 bis 1832 an. Zentrale Vertreter dieser Epoche waren Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller. Die zeitliche Abgrenzung orientiert sich dabei an dem Schaffen Goethes. So wird dessen erste Italienreise im Jahr 1786 als Beginn der deutschen Klassik angesehen, die dann mit seinem Tod im Jahr 1832 ihr Ende nahm. Sowohl die Bezeichnung Klassik als auch die Bezeichnung Weimarer Klassik sind gebräuchlich. Das literarische Zentrum dieser Epoche lag in Weimar. Humanität, Güte, Gerechtigkeit, Toleranz, Gewaltlosigkeit und Harmonie sind die essenziellen Themen. Die Weimarer Klassik orientiert sich am antiken Kunstideal. Charakteristisch ist ein hohes Sprachniveau und eine reglementierte Sprache. Diese reglementierte Sprache verdeutlicht im Vergleich zum natürlichen Sprachideal des Sturm und Drang mit all seinen Derbheiten den Ausgleich zwischen Vernunft und Gefühl. Die Dichter haben in der Weimarer Klassik auf Gestaltungs- und Stilmittel aus der Antike zurückgegriffen. Die bedeutenden Schriftsteller der Weimarer Klassik sind Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller. Andere Schriftsteller der Weimarer Klassik sind Christoph Martin Wieland und Johann Gottfried Herder. Die beiden letztgenannten arbeiteten jeweils für sich. Einen produktiven Austausch im Sinne eines gemeinsamen Arbeitsverhältnisses gab es nur zwischen Goethe und Schiller.

Das Gedicht besteht aus 82 Versen mit insgesamt 7 Strophen und umfasst dabei 369 Worte. Der Dichter Johann Gottfried Herder ist auch der Autor für Gedichte wie „Das Glück“, „Das Kind der Sorge“ und „Das Orakel“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Zerstreute hund- und hirtenlose Heerde“ weitere 413 Gedichte vor.

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