Der alte Pojaz spricht von Kurt Tucholsky

Mein Kind, ich bin schon lange fern der Schminke,
gern denk ich dran, das war die bunte Zeit!
Ich gab dem Personal die letzten Winke,
dann trat ich auf: zwei Meter zwanzig breit,
auf meinem Hut sang ein Kanaripärchen,
auf Rollen zog ich nach ein kleines Licht …
Und doch: betracht ich mir die letzten Jährchen –
Nein! solche Purzelbäume schlug ich nicht!
 
Ich war gewiß mal eine dolle Nummer,
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trieb meinen besten Freunden Nägel in den Bauch
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und sang mir häufig meinen Liebeskummer
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in einen präparierten Gartenschlauch.
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Nun bin ich alt und bürgerlich geworden,
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ich seh mich um, was hier zu Hause ficht,
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seh mir die Leute an mit Titeln und mit Orden –
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Nein! solche Purzelbäume schlug ich nicht!
 
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Wenn ich die Ausschußpolitik betrachte,
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dies Reklamiertenmundwerk – bin ich starr.
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Denn, was ich auch in meiner Jugend machte:
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ich war ein Clown, doch war ich niemals Narr.
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Ich ließ die Pritsche und Pistole krachen,
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ich tanzte manchen Wackelpolkaschritt …
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Doch was die neuen Clowns für Sprünge machen:
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Grüß Gott, mein Kind, da kann ich nicht mehr mit!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (24.9 KB)

Details zum Gedicht „Der alte Pojaz spricht“

Anzahl Strophen
3
Anzahl Verse
24
Anzahl Wörter
174
Entstehungsjahr
1919
Epoche
Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit,
Exilliteratur

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Der alte Pojaz spricht“ wurde von Kurt Tucholsky geschrieben, einem deutschsprachigen Schriftsteller und Journalisten, der von 1890 bis 1935 lebte. Seine produktivsten Jahre waren in den Jahrzehnten vor und nach dem Ersten Weltkrieg, einer Zeit großer sozialer und politischer Umwälzungen und Innovationen in Deutschland und Europa.

Auf den ersten Blick erscheint das Gedicht als nostalgische Reflektion des lyrischen Ichs auf seine Vergangenheit. Es handelt sich um eine Figur, die sich zurückzieht und die früheren Zeiten, in denen sie eine prominente, unterhaltsame Rolle spielte, in Erinnerung ruft. Das lyrische Ich, da er oder sie sich in der unterhaltenden Künstlerwelt bewegt hat, ist jedoch jetzt alt und hat sich aus dieser aktiven Rolle zurückgezogen.

Inhaltlich bietet das Gedicht eine brüchige Balance zwischen Respekt vor der Vergangenheit und Verachtung für die Gegenwart. Das lyrische Ich erinnert sich an die „bunte Zeit“, die Zeiten des Spaßes und des Lachens, die aber nun als jugendlicher Kummer dargestellt werden. Während das lyrische Ich sich nostalgisch an seine Vergangenheit als Entertainer zurückblickt, distanziert es sich gleichzeitig von der aktuellen politischen und öffentlichen Szene – es war 'ein Clown, doch nie ein Narr'.

In Bezug auf die Form und Sprache des Gedichts fällt eine klare Rhythmik und Reimfolge auf. Jede der drei Strophen folgt dem gleichen Versmaß und dem gleichen Reimschema (ABAB) und enthält eine Variation des wiederholten Chorus „Nein! solche Purzelbäume schlug ich nicht!“ Diese Regelhaftigkeit in Form und Rhythmus spiegelt die routinierte, fast mechanische Natur der Show-Performance wider, auf die sich das Gedicht bezieht. Zudem nutzt Tucholsky eine einfache, leicht verständliche Sprache, die dennoch stark bildhaft ist und eine Stimmung der tragischen Komik erzeugt.

Die entscheidende Passage ist jedoch die letzte, in welcher das lyrische Ich seine derzeitige Unfähigkeit bekräftigt, mit der gegenwärtigen politischen Szene („was die neuen Clowns für Sprünge machen“) mitzuhalten. Hier wird schließlich deutlich, dass das Gedicht eine bissige Gesellschaftskritik ist, in der Tucholsky seine Fähigkeit nutzt, politischen und sozialen Kommentar durch seine Dichtkunst einzubringen.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Der alte Pojaz spricht“ ist Kurt Tucholsky. Im Jahr 1890 wurde Tucholsky in Berlin geboren. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1919. Erscheinungsort des Textes ist Charlottenburg. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit oder Exilliteratur zuordnen. Bei dem Schriftsteller Tucholsky handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Wichtigen geschichtlichen Einfluss auf die Literatur der Weimarer Republik hatten der Erste Weltkrieg und die daraufhin folgende Entstehung und der Fall der Weimarer Republik. Neue Sachlichkeit ist eine Richtung der Literatur der Weimarer Republik. In den Werken dieser Epoche ist die zwischen den Weltkriegen hervortretende Tendenz zu illusionsloser und nüchterner Darstellung von Gesellschaft, Technik, Weltwirtschaftskrise aber auch Erotik deutlich erkennbar. Man kann dies auch als Reaktion auf den literarischen Expressionismus werten. Die Handlung wurde meist nur kühl und distanziert beobachtet. Die Dichter orientierten sich dabei an der Realität. Mit einem Minimum an Sprache wollte man ein Maximum an Bedeutung erreichen. Mit den Texten sollten so viele Menschen wie möglich erreicht werden. Deshalb wurde darauf geachtet eine nüchterne sowie einfache Alltagssprache zu verwenden. Die Freiheit von Wort und Schrift war zwar verfassungsmäßig garantiert, doch bereits 1922 wurde nach der Ermordung eines Politikers das Republikschutzgesetz erlassen, das diese Freiheit wieder einschränkte. Viele Schriftsteller litten unter dieser Zensur. In der Praxis wurde dieses Gesetz allerdings nur gegen linke Autoren angewandt. Aber gerade die rechts gerichteten Schriftsteller waren es häufig, die in ihren Werken offen Gewalt verherrlichten. Die Grenzen der Zensur wurden im Jahr 1926 durch das sogenannte Schund- und Schmutzgesetz nochmals verstärkt. Die Beschlagnahmung von Schriften und das Verbot von Zeitungen wurden durch die Pressenotverordnung im Jahr 1931 ermöglicht.

Zur Zeit des Nationalsozialismus mussten viele Schriftsteller ins Ausland fliehen. Dort entstand die sogenannte Exilliteratur. Ausgangspunkt der Exilbewegung ist der Tag der Bücherverbrennung im Mai 1933 im nationalsozialistischen Deutschland. Alle nicht-arischen Werke wurden verboten und symbolträchtig verbrannt. In Folge dessen flohen zahlreiche Schriftsteller aus Deutschland. Die Exilliteratur bildet eine eigene Literaturepoche in der deutschen Literaturgeschichte. Sie schließt an die Neue Sachlichkeit der Weimarer Republik an. Die Themen der deutschen Exilliteratur lassen sich zunächst in zwei Gruppen einteilen. Einige Schriftsteller fühlten sich in ihrer neuen Heimat nicht zu Hause, hatten Heimweh und wollten einfach in ihr altes Leben vor dem Nationalsozialismus zurückkehren. Oft konnten sie im Ausland nicht mehr ihrer Tätigkeit als Schriftsteller nachgehen, da sie nur in Deutsch schreiben konnten, was im Ausland niemand verstand. Heimweh und ihre Liebe zum Mutterland sind die Themen in ihren Werken. Die anderen Schriftsteller wollten sich gegen Nazideutschland wehren. Man wollte einerseits die Welt über die Grausamkeiten in Deutschland aufklären. Andererseits aber auch den Widerstand unterstützen. Bestimmte formale Gestaltungsmittel wie zum Beispiel Metrum, Reimschema oder der Gebrauch bestimmter rhetorischer Mittel lassen sich in der Exilliteratur nicht finden. Die Exilliteratur weist häufig einen Pluralismus der Stile (Realismus und Expressionismus), eine kritische Betrachtung der Wirklichkeit und eine Distanz zwischen Werk und Leser oder Publikum auf. Sie hat häufig die Absicht zur Aufklärung und möchte Gesellschaftsentwicklungen aufzeigen (wandelnder Mensch, Abhängigkeit von der Gesellschaft).

Das Gedicht besteht aus 24 Versen mit insgesamt 3 Strophen und umfasst dabei 174 Worte. Weitere bekannte Gedichte des Autors Kurt Tucholsky sind „An einen garnisondienstfähigen Dichter“, „An ihren Papa“ und „Apage, Josephine, apage–!“. Zum Autor des Gedichtes „Der alte Pojaz spricht“ haben wir auf abi-pur.de weitere 136 Gedichte veröffentlicht.

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