Herbstlied von Johann Gottfried Herder

Der Winter kommt, der Wind ist kalt,
Das Laub beginnt zu fallen;
Ach, wie's Dir gehet, liebes Laub,
So muß es gehn uns Allen.
 
Wir sind geflochten, roll'n umher,
Umher im Rad der Zeiten,
Und wie sie rollen Jahr ins Jahr,
So geht's zu Ewigkeiten.
 
Ich stand einst jung, ich schwebt' umher
10 
Im Hauch der Frühlingsweste;
11 
Es sprühte frisch, es trieb der Saft,
12 
So ward das Bäumlein feste.
 
13 
Die Blüthen weben die Blätter herab,
14 
Sie spreiten weiß die Erde,
15 
Daß sanft im Regen und Sonnenschein
16 
Zur Frucht das Knösplein werde.
 
17 
Die Früchte lachen, es nagt der Wurm,
18 
Wo die Frücht' am Schönsten lachen,
19 
Und, voller Baum, Dich peitscht der Sturm,
20 
Zum nackten Streif zu machen.
 
21 
Sie zeucht uns an, sie zeucht uns aus,
22 
Legt nackt uns nieder zur Bahre,
23 
O grause Mutter, Mutter Zeit!
24 
Und färbt und falbt die Haare.
 
25 
Wirf ab! die Blüthe dauert nicht,
26 
Daß reif die Knospe werde.
27 
Wirf ab! die Blätter falben schon
28 
Und wallen nieder zur Erde.
 
29 
Da rauscht's von Leichen: »Brich, o Nord,
30 
Das Dürre auch danieder!
31 
Rauscht, Blätter! dürren Aeste, flammt!
32 
Es sind nicht meine Glieder.«
 
33 
Ha, neuer, neuer Frühlingswind,
34 
Wann wirst, wann wirst Du wehen,
35 
Da Laub und Blüth' und Frucht ersteht
36 
Und nimmer wird vergehen?
 
37 
Ha, neuer, neuer Frühlingswind,
38 
Du wärmst mein Mark verborgen;
39 
Noch in der Wurzel lebt mein Saft,
40 
Und frisch ersteh' ich morgen.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.7 KB)

Details zum Gedicht „Herbstlied“

Anzahl Strophen
10
Anzahl Verse
40
Anzahl Wörter
225
Entstehungsjahr
1744 - 1803
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Herbstlied“ stammt von Johann Gottfried Herder, einem der wichtigsten Denker der deutschen Aufklärung und Wegbereiter der Romantik, der von 1744 bis 1803 lebte. Auf den ersten Eindruck ist das Gedicht von einer eher melancholischen, aber auch Hoffnung spendenden Natur und lässt Raum für unterschiedliche Interpretationen. Inhaltlich dreht sich das Gedicht um den Verlauf des Lebens, die Vergänglichkeit, aber auch die Möglichkeit der Erneuerung und Wiedergeburt.

Dies wird durch die Metapher des Herbstes und der darauffolgenden Jahreszeiten ausgedrückt, die den Lebenszyklus symbolisieren. Der Autor fängt mit dem beginnenden Winter an, der für das Ende des Lebens steht (Verse 1-4). Das lyrische Ich identifiziert sich mit dem fallenden Laub und verdeutlicht damit unsere Sterblichkeit. Die nächste Strophe (Verse 5-8) behandelt das Prinzip der Wiedergeburt und den ständigen Wandel im „Rad der Zeiten“. Die Strophen 9 bis 16 erinnern an die Jugend und das Heranwachsen, die Blüte des Lebens und die anschließende Früchtebringung oder Reife.

Strophe 17-20 und 21-24 beleuchten jedoch die anderen Seiten dieser Reife: das Eingreifen des Todes oder der „Zeit“ durch den „Wurm“, der die Früchte auffrisst und den „Sturm“ der einen „nackten Streif“ aus dem Baum macht. Strophe 25-28 führt diese Idee weiter und fordert dazu auf, das Alte oder Verfaulte „abzuwerfen“, denn alles führt letztlich zum Tod oder zur Vergänglichkeit. Trotz dieser düsteren Botschaft endet das Gedicht jedoch mit einer Note der Hoffnung und der Erneuerung (Strophe 33-40), wo der „neue, neue Frühlingswind“ und das „morgen“ den Neubeginn und die Kontinuität des Lebens verdeutlichen.

Formal weist das Gedicht eine klare Struktur auf. Es besteht aus zehn vierzeiligen Strophen, wobei der Reim abwechselnd ist. Die Sprache ist eher einfach und verständlich gewählt, was das Gedicht zugänglich und lesbar macht. Allerdings sind die verwendeten Bilder und Metaphern in ihrer Doppeldeutigkeit komplex, was dem Gedicht seine Tiefe und Mehrschichtigkeit verleiht. Insgesamt bleibt Herders „Herbstlied“ ein tiefgründiges und nachdenkliches Werk, das zur Reflexion über das Leben, den Tod und die Vergänglichkeit anregt.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Herbstlied“ ist Johann Gottfried Herder. Der Autor Johann Gottfried Herder wurde 1744 in Mohrungen (Ostpreußen) geboren. Das Gedicht ist in der Zeit von 1760 bis 1803 entstanden. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zuordnen. Der Schriftsteller Herder ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen.

Zwischen den Epochen Empfindsamkeit und Klassik lässt sich in den Jahren von 1765 bis 1790 die Strömung Sturm und Drang einordnen. Zeitgenössische Genieperiode oder Geniezeit sind häufige Bezeichnungen für diese Literaturepoche. Die Literaturepoche des Sturm und Drang war eine Protestbewegung, die aus der Aufklärung hervorging. Der Protest richtete sich dabei gegen den Adel und dessen höfische Welt, sowie andere absolutistische Obrigkeiten. Er richtete sich aber auch gegen das Bürgertum, das als freudlos und eng galt, und dessen Moralvorstellungen veraltet waren. Als Letztes richtete sich der Protest des Sturm und Drang gegen Traditionen in der Literatur. Die Autoren der Epoche des Sturm und Drangs waren häufig unter 30 Jahre alt. In den Gedichten wurde darauf geachtet eine geeignete Sprache zu finden, um die persönlichen Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen. Die Nachahmung und Idealisierung von Autoren aus vergangenen Epochen wie dem Barock wurde abgelehnt. Die alten Werke wurden dennoch geschätzt und dienten als Inspiration. Es wurde eine eigene Jugendkultur und Jugendsprache mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Wiederholungen und Halbsätzen geschaffen. Schiller, Goethe und die anderen Autoren jener Zeit suchten nach etwas Universalem, was in allen Belangen und für jede Zeit gut sei und entwickelten sich stetig weiter. So ging der Sturm und Drang über in die Weimarer Klassik.

Die Weimarer Klassik war beeinflusst worden durch die Französische Revolution mit ihren Forderungen nach Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit. Der Kampf um eine Verfassung, die revolutionäre Diktatur unter Robespierre und der darauffolgende Bonapartismus führten zu den Grundstrukturen des 19. Jahrhundert (Nationalismus, Liberalismus und Imperialismus). Die Literaturepoche der Weimarer Klassik lässt sich zeitlich mit der Italienreise Goethes im Jahr 1786 und mit dem Tod Goethes 1832 eingrenzen. Das Zentrum dieser Literaturepoche lag in Weimar. Es sind sowohl die Bezeichnungen Klassik als auch Weimarer Klassik gebräuchlich. Die Dichter der Weimarer Klassik wollten die antiken Stoffe aufleben lassen. Mit der antiken Kunst beschäftigte sich Goethe während seiner Italienreise. Die Antike gilt nun als Ideal, um Harmonie und Vollkommenheit erreichen zu können. In der Gestaltung wurde das Gültige, Gesetzmäßige, Wesentliche aber auch die Harmonie und der Ausgleich gesucht. Im Gegensatz zum Sturm und Drang, wo die Sprache oftmals roh und derb ist, bleibt die Sprache in der Weimarer Klassik den sich selbst gesetzten Regeln treu. Die wichtigen Schriftsteller der Klassik sind Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller. Weitere Schriftsteller der Klassik sind Johann Gottfried Herder und Christoph Martin Wieland. Die beiden zuletzt genannten arbeiteten jeweils für sich. Einen produktiven Austausch im Sinne eines gemeinsamen Arbeitsverhältnisses gab es nur zwischen Friedrich Schiller und Johann Wolfgang von Goethe.

Das vorliegende Gedicht umfasst 225 Wörter. Es baut sich aus 10 Strophen auf und besteht aus 40 Versen. Johann Gottfried Herder ist auch der Autor für Gedichte wie „Das Kind der Sorge“, „Das Orakel“ und „Das Ross aus dem Berge“. Zum Autor des Gedichtes „Herbstlied“ haben wir auf abi-pur.de weitere 413 Gedichte veröffentlicht.

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